RTL2 kann heilfroh sein, dass der ehemalige
Leiter des katholischen Kinderdorfes in Würzburg wieder aufgetaucht
ist. Hätte er sich etwas angetan, wäre aus der fragwürdigen Sendung
»Tatort Internet« eine skandalöse geworden. Obwohl es bisher keine
Beweise dafür gibt, dass der 61-Jährige pädophil ist und dass er
jemals Kinder sexuell bedrängt hat, erweckte RTL2 in der Sendung
»Tatort Internet« den Eindruck, als handele es sich um einen
Verbrecher. In der Sendung selbst konnte der Mann gar nicht zum Täter
werden, weil der Lockvogel im Internet-Chatroom eine erwachsene Frau
war. Die Sendung wirft die Frage auf, ob der Zweck, in diesem Fall
der Schutz von Kindern, alle Mittel heiligt. Antwort: Nein, es ist
nicht alles erlaubt. Einen Reality-Krimi zu inszenieren und dabei
Täter zu erfinden und an den Pranger zu stellen, geht zu weit.
Kinderschänder zu fassen und zu verurteilen ist Aufgabe von Polizei
und Justiz. Das Fernsehen darf sich nicht als Gerichtshof aufspielen,
ist aber sehr wohl dazu aufgerufen, Hinweise auf mögliche Straftaten
an die Ermittlungsbehörden weiterzugeben. Vor dieser Vermischung von
Zuständigkeiten zu warnen, bedeutet keineswegs, sich auf die Seite
der Täter zu stellen. Kinder vor Perversen im Internet zu schützen,
dazu ist die ganze Gesellschaft aufgerufen – auch die Medien. Aber
die sollten mit sachlichen statt effektheischenden Beiträgen
mithelfen. RTL2 hätte sich viel Kritik ersparen können, hätte der
Sender Schauspieler nicht nur die Rolle von Lockvögeln, sondern auch
von vermeintlichen Pädophilen spielen lassen. In solchen
nachgestellten Szenen aufgrund der angestellten Recherchen wären das
kleinlaute, abwiegelnde Gestammel erwischter Männer genauso deutlich
geworden und die Dramaturgie der Sendung erhalten geblieben. Die
echten Chatprotokolle hätte der Sender ja ergänzend zeigen können.
Aber weil sich RTL2, der Einschaltquote wegen, als Jäger aufspielen
wollte, geriet das Ganze reißerisch und sorgte dafür, dass angebliche
Täter identifizierbar wurden, wie der inzwischen entlassene
Kinderdorfleiter in Würzburg. Der Unterschied zwischen »Tatort
Internet« und der Internetplattform Wikileaks besteht darin, dass die
Amerikaner keine Fälle konstruiert, sondern Tatsachen enthüllt haben,
die in Akten der US-Armee zum Irakkrieg dokumentiert sind. Hier trägt
ein Medium dazu bei, die einseitig positive, verharmlosende
Darstellung der US-Regierung und der Streitkräfte infrage zu stellen,
den Schleier über Gräueltaten wegzureißen und so den Bürgern die
Chance zu geben, ihr Bild vom Irakkrieg zu erweitern. Dagegen hat
RTL2 durch eine unseriöse Machart dem wichtigen Anliegen, Kinder,
Jugendliche und deren Eltern über Gefahren im Netz aufzuklären, einen
Bärendienst erwiesen. Dass der Sender mittlerweile eine
Aufklärungs-DVD an Eltern und Lehrer verbreitet, kann den
angerichteten Schaden nicht wieder gutmachen.
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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