Verkehrte Welt: Die schwarz-gelbe
Bundesregierung, die den Atomausstieg nicht wollte, beschließt ihn
heute. SPD und Grüne aber, die ihn längst wollten, können sich nicht
so recht darüber freuen. Das hat Gründe, darunter sehr gute. Erstens
kehren CDU/CSU und FDP bloß dahin zurück, wo Rot-Grün als
Regierungskoalition schon einmal war. Zweitens ist die Opposition
nicht aufgerufen, der Regierung zu applaudieren, sondern sie zu
kontrollieren. Erst recht nach einer rasanten Kehrtwende wie in
diesem Fall. Doch hat es drittens auch den Anschein, als könnte da
jemand ein bisschen neidisch sein. SPD und Grünen geht es heute fast
so, wie es Union und FDP mit der Agenda 2010 der Regierung Schröder
ging. Da tut der politische Gegner etwas, das man selbst im Kern
nicht anders, allenfalls im Detail hätte besser machen können. Und er
korrigiert sich sogar, wo es notwendig ist – wie es die Kanzlerin am
Freitag auf Druck der Länder mit der schrittweisen Abschaltung der
Atommeiler getan hat. Fehlt nur noch, dass Schwarz-Gelb auch die
Endlagerfrage neu stellt. Angela Merkel räumt dieser Tage so
konsequent eigene, bis dato für unverrückbar gehaltene Positionen ab,
dass es der Union, ihren Wählern, dem Koalitionspartner und der
Wirtschaft schwindelig werden mag. Die Atomkraftgegner aber könnten
sich derzeit eine bessere Frontfrau kaum vorstellen. Keine leichten
Zeiten für die Opposition. Für die Grünen aber geht es um mehr als
politisches Rollenspiel. Sie sind dabei, ihren letzten und
wichtigsten Gründungsmythos zu verlieren. Vom zweiten, der
Friedensbewegung, hatte sich die Partei einst unter ihrem
Außenminister Joschka Fischer mit der Teilnahme am Kosovo-Einsatz
selbst verabschiedet. Nun ist auch der Kampf gegen die Atomkraft
gewonnen. Das ist zweifelsohne ein Triumph für die Grünen. Doch auch
wenn Schwarz-Gelb wegen der eigenen Glaubwürdigkeitslücke keinen
Nutzen aus der Energiewende ziehen kann, steht fest: Es ist diese
Regierung Merkel, die diese Wende wahr macht. Irgendwann wird man
sich nur noch daran erinnern. Die Grünen aber verlieren ihr
wichtigstes Thema. Und das nächste Dilemma wartet bereits. Eine
schnelle Energiewende und mehr Bürgerbeteiligung sind zugleich nicht
zu haben. Auch die Ökopartei muss sich entscheiden, wie viel
politisches Kapital ihr die eigene Überzeugung wert ist. Gut
möglich, dass die erfolgsverwöhnten Grünen von alledem lange nichts
merken. Gut möglich sogar, dass sie auch in Berlin die Wahl gewinnen
und Renate Künast Regierende Bürgermeisterin wird. Gut möglich aber
eben auch, dass die Energiewende dereinst den Anfang vom Ende ihres
Höhenflugs markieren wird. Jürgen Großmann dürfte sicher nicht zu
den bevorzugten Ratgebern der Grünen gehören. Doch vielleicht passt
eine Weisheit des RWE-Chefs dann doch zu ihnen: »Wenn man auf dem
Gipfel steht, geht es in jede Richtung bergab.«
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Andreas Kolesch
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