Westfalen-Blatt: das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Fall Sami A.

Das oft zitierte gesunde Volksempfinden ist
nicht immer gesund. Viele Menschen, die sich lautstark als Volk zu
Wort melden, sind an Fakten überhaupt nicht mehr interessiert. Denn
Fakten drohen, ihr Weltbild zu zerstören.

Ausgerechnet dieses Klientel bedient Nordrhein-Westfalens
Innenminister Herbert Reul (CDU), wenn er im Fall Sami A. erklärt:
»Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen
dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen.«

Nein, genau das sollen Richter nicht. Richter sollen Gesetze, die
von Politikern gemacht wurden, anwenden – ohne Ansehen der Person.
»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«, steht im Grundgesetz.
Natürlich darf man nicht verkennen, dass auch Richter nicht im
luftleeren Raum arbeiten. Bei Kindesmissbrauch oder anderen Fällen
mit einem hohen öffentlichen Erwartungsdruck kann es vorkommen, dass
bei entsprechender medialer Berichterstattung das Urteil etwas höher
ausfällt als in Verfahren, die von der Öffentlichkeit nicht beachtet
werden.

Einem solchen, von einzelnen Politikern geschürten Erwartungsdruck
haben die Verwaltungsrichter im Fall Sami A. aber nicht nachgegeben.
Im Gegenteil. Für ihre Entscheidung, dass die Abschiebung des
Gefährders rechtswidrig war, sind sie mit Beleidigungen und
Bedrohungen überzogen worden. Mehr als 350 solcher Mails und Briefe
haben sie bis gestern bekommen.

Nur der Vollständigkeit halber sei noch einmal erwähnt: Die
Richter hatten nicht zu entscheiden, ob Sami A. gefährlich ist oder
ob ihm in Tunesien Folter droht. Sie mussten klären, ob seine
Abschiebung dem Gesetz entsprochen hat – und das hat sie nicht.

Die Landesregierung müsste diese Einschätzung des Gerichts als
Auftrag verstehen, Abläufe zu ändern, zumal die Richter den Verdacht
haben, dass man sie bewusst nicht über den Abschiebetermin informiert
hat. Doch vom Ministerpräsidenten war gestern nichts zu hören, das
nach Selbstkritik klang. Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) gab
zwar einzelne Versäumnisse zu, hält das Vorgehen seines Hauses aber
im Wesentlichen für korrekt. Und der Innenminister polterte gegen die
Richter. Da johlen die Stammtische wie bei einer Runde Freibier. Dass
Herbert Reul andeutet, Richter sollten mit einem Auge auf die
Volksseele schielen, ist fatal. Erst recht in Zeiten, in denen sich
die EU um die Unabhängigkeit der Justiz in Polen sorgt. Man darf
ausschließen, dass Reul der Satz nur so rausgerutscht ist, denn er
hat ihn gestern den ganzen Tag über stehengelassen.

Viele Asylbewerber kommen aus Ländern, in denen Richter
willfährige Gehilfen von Politikern sind. Das ist bei uns zum Glück
anders, und das will ja auch niemand ändern – auch Reul nicht. Aber
dann muss man als Innenminister seine Worte auch sorgfältiger wägen.

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Andreas Kolesch
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