Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Libyen

Als libysche Rebellen vor einem Jahr Tripolis
eroberten, herrschten Jubel und Euphorie. Gaddafi war besiegt, das
Land sah einer glücklichen Zukunft entgegen. Doch leider konnte die
Übergangsregierung bisher weder Sicherheit noch Ordnung schaffen:
Milizen kämpfen um Vorherrschaft, Stammesrivalitäten spalten die
Gesellschaft, und die staatliche Einheit ist in Gefahr. Das Chaos
regiert überall. Gestern hat sogar eine Miliz den Flugplatz von
Tripolis besetzt. Kritiker meinen, es ginge Libyen heute schlechter
als zur Gaddafi-Zeit. Doch das ist eine Fehleinschätzung. Zunächst
kommt die Wirtschaft wieder in Gang. Libyen ist nicht arm. Im
Gegensatz zu Tunesien, Ägypten und Syrien besitzt Libyen viel Öl und
Gas. Auch die demokratische Entwicklung macht Fortschritte: Im Juni
wird eine verfassunggebende Versammlung gewählt, 4000 Kandidaten aus
120 Parteien kämpfen um 200 Sitze. Dann soll ein Referendum über
einen Verfassungsentwurf entscheiden. Somit kann die Gaddafi-Diktatur
von einer demokratischen Bewegung abgelöst werden, die Hoffnung auf
Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität begründet. Obendrein haben
islamische Fundamentalisten wenig Einfluss. Anders als im Irak konnte
Libyen den offenen Bürgerkrieg vermeiden. Die bewaffneten Rebellen
wollen primär verhindern, dass sich Gaddafi-Leute im neuen Staat
etablieren. Eine neu gewählte Regierung müsste zunächst die Milizen
entwaffnen und für Sicherheit sorgen – und in Bildung, Ausbildung,
Polizei, Militär und Verwaltung investieren, denn Gaddafi hat sein
Land verschlampen lassen. Überall fehlt es an Managern, Experten und
Sicherheitskräften. Hier kommt der Westen ins Spiel: Diesmal benötigt
Libyen weder Geld noch Waffen, doch es braucht starke Institutionen,
erfahrene Beamte, gute Polizisten und eine verlässliche Armee. Weil
das Land keine demokratische Tradition hat, muss es seine
Zivilgesellschaft aufbauen, Parteien gründen und die Medien
entwickeln. Europa und die UNO sind zur Mitarbeit aufgefordert: Die
EU kann Libyen eine Assoziierung anbieten, Ausbilder schicken und
zivilen Aufbau leisten. Die europäischen Anrainerstaaten können
Entwicklungsprogramme auflegen und Berater entsenden, denn ein
wirtschaftlich und politisch starkes Libyen stabilisiert die gesamte
Sahel- und Südmittelmeerregion. Das ist auch im Interesse Europas.
Doch bis dahin ist es noch weit. Zunächst muss Libyen seine
Rückständigkeit überwinden und sich politisch stabilisieren. Europa
und die Welt sollten nichts unversucht lassen, dem jungen Staat dabei
zu helfen. Ahmed al-Senussi, der Chef des Übergangsrates, meint:
»Libyen muss den Schritt in die neue Zeit schaffen und voll und ganz
in die Weltgemeinschaft aufgenommen werden.« Al-Senussi glaubt an das
neue, demokratische Libyen. Sein Patriotismus ist echt. Schließlich
hat er einen besonders hohen Preis für die Freiheit bezahlt: 31 Jahre
Haft in Gaddafis Gefängnissen.

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