Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum ThemaÄgypten:

»Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Dieser
drastische Spruch aus der »Dreigroschenoper« bewahrheitet sich wieder
in Ägypten: Der Ruf nach Freiheit und Demokratie spielt zwar eine
wichtige Rolle, doch Arbeit, Brot, Bildung und Gesundheit gehen vor.
Die meisten Ägypter kämpfen für einen höheren Lebensstandard, die
Beseitigung der Korruption, bessere Schulen und mehr soziale
Leistungen. Demokratische Praktiken sind zweitrangig. Diese
Erkenntnis mag überraschen, denn der stürmische Protest gegen
Präsident Mubarak ist eine politische Aktion. Die Wut richtet sich
gegen die Regierung. Doch die Unzufriedenheit hat primär
wirtschaftliche und soziale Gründe: Die meisten Ägypter sind arm,
perspektivlos und frustriert. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt
bei nur 2000 Dollar, die Arbeitslosigkeit erreicht 20 Prozent, die
Schulen sind überlastet, und das Gesundheitssystem ist marode. 40
Prozent der Ägypter leben von knapp zwei Dollar am Tag. Steigende
Preise für Nahrungsmittel und Benzin, Unterversorgung,
Geschäftsschließungen und Korruption verschärfen das Elend. Die
jungen Leute trifft es besonders hart: Da die Hälfte der 83 Millionen
Ägypter jünger als 25 Jahre ist, führt die Unterbeschäftigung zu Wut,
Frust und Protest. Ägyptens Jugend kämpft für eine bessere Zukunft.
Doch welche Zukunft kann diese Generation erwarten? Wird eine neue
Regierung erfolgreicher, gerechter und sozialer sein? Oder wird
Ägypten zum islamistischen »Gottesstaat«? Alles hängt von der
Mubarak-Nachfolge ab – und von der Frage, ob das Militär freie
Wahlen, Transparenz, freies Unternehmertum und Bürgerrechte zulässt.
Denn die Streitkräfte werden Ägyptens Zukunft maßgeblich prägen. Kein
General will mit Mubarak untergehen. Heute liegt Ägypten am Boden,
doch der Aufschwung wird kommen. Die Politik der nächsten Regierung
aber bleibt ungewiss: Ägypten ist politisch fragmentiert und
zerstritten. Das Spektrum reicht von rechts bis links einschließlich
der islamischen Muslimbrüder. Der Westen wünscht eine gemäßigte
Regierung unter Mohammed El Baradei, dem ehemaligen Chef der
Internationalen Atomenergieagentur. Doch El Baradei ist politisch
unerfahren und unbeliebter als die Muslimbrüder, deren Politik auf
sozialer Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung und Solidarität beruht. Da
Ägyptens Zukunft von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung
abhängt, haben die Muslimbrüder vielleicht eine Chance. Staatliche
Arbeitsbeschaffung, wirtschaftliche Entwicklung, Bildung und
Gesundheitsfürsorge sind der Weg aus der Misere. Vielleicht kann
Ägypten von Marokko lernen: Dort haben König und Regierung ein
Entwicklungsprogramm aufgelegt, das Armut, Arbeitslosigkeit und
Analphabetismus erfolgreich bekämpft. Gleichwohl: Die Zukunft
Ägyptens muss besser werden als der korrupte und traurige Zustand der
Gegenwart.

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