Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur deutschen Sicherheitsdebatte nach dem Massaker von Norwegen

Ganz Norwegen trauert. Die Anschläge eines
Landsmannes, bei denen mehr als 70 Menschen auf grausame Weise
starben, erschüttern das Land. Viele Norweger geben sich gegenseitig
Halt, kommen an verschiedenen Orten zusammen, halten gemeinsam inne.
Während die Norweger angesichts des Unfassbaren schweigen, wird in
Deutschland hemmungslos geplappert. Es ist unerträglich, wie kurz
nach und bisweilen während der Tragödie diskutiert worden ist. Die
Grenzen des moralisch Vertretbaren werden ungeniert überschritten. So
hat die Gewerkschaft der Polizei (GdP) nichts Besseres zu tun, als
ihren Vorschlag einer neuen Datei für auffällige Personen in den Ring
zu werfen. Und ihre Konkurrenzorganisation, die Deutsche
Polizeigewerkschaft (DPolG), erklärt diese Idee umgehend zu
»hanebüchenem Unsinn«. Dieses Gezänk ist zum aktuellen Zeitpunkt
nicht nur unangebracht, sondern respektlos. Den Gipfel der
Respektlosigkeit hat Manfred Sohn, Chef der niedersächsischen Linken,
erklommen. Er kanzelte seinen Innenminister Uwe Schünemann (CDU) mit
folgenden Worten ab: »Politiker wie er sind mitverantwortlich für die
Schaffung des ideologischen Umfelds, in dem Attentäter wie Anders
Behring Breivik gedeihen können.« Damit reagierte er auf Schünemanns
Aussage, dass es erschreckend sei, zu welchen Anschlägen
radikalisierte Einzeltäter in der Lage seien und dass von ihnen
offenbar die größte Gefahr ausgehe. Sohns Worte sind beschämend. Auf
diesem Wege das parteipolitische Gezerre zu befeuern, kommt einer
Bankrotterklärung gleich. Abgesehen von der moralischen Ebene bringt
auch die inhaltliche Diskussion merkwürdige Blüten hervor. Der
bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) schlägt vor, das
Internet aufmerksamer zu beobachten. Diese Idee entlarvt eine
eigenartige Vorstellung der Online-Welt. Diese vollkommen zu
durchleuchten, ist unmöglich. Wäre die von Breivik heruntergeladene
Anleitung zum Bombenbau gelöscht worden, wäre sie in Sekundenschnelle
an anderer Stelle wieder aufgetaucht. Wer glaubt, die unüberschaubare
Datenmenge beherrschen zu können, irrt. Auch mit intensiven
Kontrollmechanismen im Internet kann der Staat irre Pläne von
Einzeltätern nicht stoppen. Außerdem muss Deutschland vorsichtig sein
mit der Kritik an Norwegens Polizei. Denn auch hierzulande musste es
erst 2002 zu einem Amoklauf in Erfurt kommen, damit die polizeilichen
Einsatzbestimmungen neu geregelt wurden. Fehler benennen und
notwendige Konsequenzen daraus ziehen, das werden die Norweger schon
selbst – auch ohne deutschen Fingerzeig. Hierzulande sollte Schluss
sein mit dem unsäglichen Gezänk über eine sicherheitspolitische
Reaktion auf das Geschehen in Norwegen. Wir sollten lieber mit den
Norwegern trauern, als uns als Besserwisser aufzuspielen.

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