Bundesweit bekommen 1,2 Millionen Schüler
Nachhilfeunterricht. Das wirft kein gutes Licht auf unser
Bildungssystem. Vollgepackte Stundenpläne, Lehrermangel, verkürzter
Weg zum Abitur: Die Gründe für immer mehr Nachhilfe sind bereits in
den Rahmenbedingungen zu finden. Im Zuge der neuen Bertelsmann-Studie
kommt aber noch etwas erschwerend hinzu: Leistungsdruck.
Offensichtlich reicht gut vielen Eltern und Schülern nicht mehr. Es
müssen noch bessere Ergebnisse her.
Das sagt viel über den aktuellen Gesellschaftswandel aus. Die
Angst vor beruflichem Scheitern ist groß. Natürlich wollen Eltern das
Beste für ihr Kind. Das war auch vor 50 Jahren so. Mit dem kleinen
Unterschied, dass das Beste nichts mit einer Eins vor dem Komma zu
tun hatte. In einer Zeit, in der das Gymnasium Sonderstatus einnimmt
und das Abitur Voraussetzung für einst leichter zugängliche Berufe
ist, tun Eltern alles, um ihr Kind in die beste Startposition zu
bringen. Nachhilfe inklusive! Durch diese Veränderungen geraten
andere Schulformen zu Restabteilungen, die es zu vermeiden gilt: eine
gefährliche Entwicklung.
Erschreckend ist, dass das bereits beim Übergang von der
Grundschule zur weiterführenden Schule beginnt. Wenn i-Dötze
erzählen, sie gingen einmal aufs Gymnasium, obwohl sie das Wort nicht
einmal buchstabieren können, läuft etwas falsch.
Um den Weg zum Gymnasium zu ebnen, wird auch in der Grundschule
Nachhilfe erteilt. Spätestens hier ist Schluss mit Vergleichbarkeit.
Wenn das eine Kind mit Nachhilfe das Gymnasium erreicht, ist das
Gesamtbild verzerrt. Denn ein anderes Kind hätte das mit derselben
Unterstützung wohl auch geschafft. Nur weil seine Eltern keine
Nachhilfe finanzieren können, geht es einen anderen Bildungsweg.
Schon entscheidet der Geldbeutel über Karrieren. Das geht in einem
öffentlichen Bildungssystem nicht. Wie weit es mit der
Aussagekraft von Abiturnoten her ist, kann sich zudem jeder denken.
Muss bald unter dem Abizeugnis »mit Nachhilfe« oder »ohne Nachhilfe«
stehen?
Dieser Trend zur Nachhilfe auch bei guten Noten zeigt auch, wie
wenig Vertrauen viele Eltern in das System Schule haben. Sie trauen
Lehrern unter aktuellen Bedingungen nicht zu, alle Kinder gut zu
fördern. So ganz falsch ist diese Sicht nicht. Der Schulalltag ist
so eng getaktet, dass individuelle Förderung nahezu unmöglich ist.
Die Konsequenz: Leistung wird einmal mehr zur Frage des elterlichen
Engagements. Gleiche Bildungschancen? Fehlanzeige!
Wenn es darum geht, einem Kind das Sitzenbleiben zu ersparen, ist
Nachhilfe oft ein Segen. Ist sie aber nur ein Mittel, um aus guten
brillante Noten zu machen oder einen Grundschüler fürs Gymnasium
herauszuputzen, müssen sich Eltern Kritik gefallen lassen. Sie
vermitteln: Du bist gut, aber nicht gut genug. Ein Weltbild, das sie
vielleicht ihr Leben lang unter Druck setzt.
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Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
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