»Die Bürger setzen darauf, dass ich
Bundespräsident bleibe«, hat Christian Wulff gestern gesagt. Diese
Behauptung kann man auch nach dem 21-minütigen Befreiungsversuch
unseres Staatsoberhauptes als kühn bezeichnen. Es ist dem sichtlich
gestressten Wulff leider nicht gelungen, bei all jenen
Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, die er in den vergangenen drei
Wochen enttäuscht hatte. Er wird zwar den Beifall derer bekommen, die
auch vorher schon wenig Kritikwürdiges an seinem Verhalten fanden;
das war es dann aber auch.
Der Bundespräsident warb gestern um Verständnis, gab sich
verletzlich, räumte auch ein, dass der Übergang vom Amt des
Ministerpräsidenten womöglich zu schnell kam, sprach von Fehlern und
einer Entschuldigung – aber was sagte er eigentlich in der Sache?
Die Kredite waren in Ordnung, und die Gratisurlaube waren in
Ordnung, findet Christian Wulff weiterhin. Nein, das waren sie nicht!
Dieses fragwürdige Selbstverständnis ist von der aufgeblasenen
Debatte um Wulffs Drohanrufe bei seinen früheren Freunden von der
»Bild«-Zeitung zwar überlagert worden, aber da liegt doch der
eigentliche Kern der Affäre. Und hier zeigt sich Wulff eben nicht
demütig.
»Haben Sie in den letzten Tagen auch mal ernsthaft an Rücktritt
gedacht?«, wurde der Bundespräsident gestern gefragt. »Nein«, sagte
Christian Wulff – und man kann ihm glauben oder nicht. Und das wird
Wulffs Problem bleiben, solange er die Strategie des Aussitzens oder
höchstens scheibchenweisen Fehlereinräumens weiterverfolgt: Ein Teil
der Menschen glaubt ihm eben nicht mehr. Sie werden seine zukünftigen
Reden ins Lächerliche ziehen. Wenn er von Moral und Anstand spricht,
wird es heißen: »Na, das sagt der Richtige!« Im Internet erschienen
in den vergangenen Tagen ständig neue Späßchen, Karikaturen und
Satiren über den ersten Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Die
CDU-Politikerin Vera Lengsfeld nannte ihn eine »Witzfigur«. So darf
es nicht weitergehen, sonst werden die verbleibenden drei Jahre von
Wulffs Amtszeit eine Quälerei.
Es war dem Bundespräsidenten anzumerken, wie schwer ihm der
gestrige Schritt gefallen ist – und der 52-Jährige verdient Respekt
für die offene Gesprächsform, die er nach mehreren Stellungnahmen
ohne Rückfragemöglichkeit nun endlich wählte. Doch sollte das
gestrige Interview nicht alles gewesen sein, was Wulff anzubieten
hat. Sonst wird er nur als der Präsident in Erinnerung bleiben, der
verzweifelt darum gekämpft hat, im Amt zu bleiben. Und das ist doch
etwas wenig für ein Staatsoberhaupt. Aber vielleicht ist Christian
Wulff zu mehr nicht in der Lage. Den Eindruck, dass da etwas fehlt,
hatte man schon nach seinem hilflosen Auftritt vom 22. Dezember.
Getilgt wurde dieser Eindruck gestern nicht.
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