Der Russe steht mal wieder vor unserer Tür.
Irgendwie ist er eine schaurige Gestalt – finster, bedrohlich und
unberechenbar. So, wie er halt immer schon war. Kaum ein Feindbild
lässt sich in Deutschland so leicht aktivieren, wie die Vorstellung
vom aggressiven russischen Bären. Sobald das Land in internationale
Spannungen verwickelt ist, verfallen wir schnell in ein plattes
Schwarz-Weiß-Schema. Die Russen sind die Bösen, ihre Gegner die
Guten. Der Blick weiter Teile unseres politisch-medialen Komplexes
auf die aktuelle Ukraine-Krise steht in dieser Tradition. Schon vor
hundert Jahren nutzte das Hohenzollernregime die Legende vom
aggressiven russischen Panslawismus, um dahinter das eigene
Machtstreben zu verstecken und den Ersten Weltkrieg zu entfachen.
Jahre später war es die Parole vom „jüdischen Bolschewismus“, mit der
im Deutschen Reich gegen Russland mobil gemacht wurde. In der
Adenauer-Ära ließ die CDU auf einem Wahlplakat eine dunkle,
furchterregende Gestalt erklären, dass alle Wege des Marxismus nach
Moskau führen. Während des Kalten Krieges wurde dann an jeder Ecke
verkündet, die Sowjetunion warte nur auf eine günstige Gelegenheit,
um über den Westen herzufallen. So unterschiedlich die politischen
Verhältnisse jeweils auch waren, immer wieder wurde mit der angeblich
permanent drohenden Gefahr aus dem Osten Stimmung gemacht. Nach und
nach entstand eine tiefsitzende Russophobie in vielen Köpfen. Heute
heißt der Russe Wladimir Putin. Natürlich sieht der Westen in ihm den
alleinigen Verursacher der Ukraine-Krise. Der Kreml-Chef ist in den
vergangenen Monaten zum politischen Dämonen schlechthin erklärt
worden. Er wird uns als instinktgetriebener Primitivling, als ein
Hasardeur präsentiert, der Russlands alte Größe wiederherstellen will
– koste es, was es wolle. Angeblich ist ihm alles zuzutrauen. Egal
was er macht, es gilt als suspekt. Schickt er einen Hilfskonvoi
Richtung Ost-Ukraine, kann das nur ein getarnter Waffentransport
sein. Wird ein malaysisches Flugzeug über den umkämpften Gebieten
abgeschossen, kann dahinter nur Putin stecken. Zwar ist bisher nichts
bewiesen. Aber so kleinlich brauchen wir nicht zu sein. Was die
Regierung in Kiew und die US-Administration behaupten, wird schon
stimmen. Sie sind ja die Guten in dieser Geschichte. Und Gute sagen
nur die Wahrheit. Was Putin hingegen verbreiten lässt, sei nichts als
Propaganda. Geistig leben wir offensichtlich wieder in
Schützengräben. Die mentale Mobilisierung ist so weit
fortgeschritten, dass jede differenziertere Analyse des
Ukraine-Konflikts umgehend in den Verdacht gerät, das hohe Lied auf
Putin singen zu wollen. Dabei gilt: Natürlich ist Putin kein
lupenreiner Demokrat. Aber die Oligarchen-Regierung in Kiew gehört
ebenfalls nicht zu den Blüten einer demokratischen Kultur. Natürlich
zieht es viele Ukrainer in die EU. Andere hingegen fühlen sich
deutlich stärker Russland verbunden. Natürlich betreibt Putin in der
Ost-Ukraine Machtpolitik. Das Gleiche gilt jedoch für die USA. Ihr
geht es um die gewaltigen Erdgasreserven der Ost-Ukraine und um eine
weitere Ausdehnung der Nato. Letzeres aber ist genau der Punkt, den
Putin fürchtet. Polen, Tschechien, Bulgarien, Rumänien und die
baltischen Staaten haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten
friedlich die russische Einflusssphäre verlassen können und sind –
trotz anderslautender Zusicherungen – von der Nato aufgenommen
worden. Doch mit dem Versuch des Westens, die Ukraine in sein Lager
zu ziehen, war für Putin eine rote Linie überschritten. Der Westen
hätte das sehen und akzeptieren müssen. Doch statt auf eine
Kompromisslösung zu drängen, die den russischen Sicherheitsinteressen
und dem innenpolitisch hochkomplexen Charakter der Ukraine Rechnung
trägt, unterstützte er nahezu bedingungslos die Regierung in Kiew.
Inzwischen scheint vieles vergessen zu sein, was Voraussetzung für
ein friedliches Miteinander in Europa ist. Permanent wird an der
Eskalationsschraube gedreht. Auch vom Westen. Längst stehen wir dank
der Sanktionspolitik am Rande eines Wirtschaftskrieges. Dabei waren
intensive Handelsbeziehungen in der Vergangenheit stets ein Garant
dafür, dass sich Länder aufeinander zubewegten und gewaltsame
Konflikte vermieden. Mit wildem Eifertum, Rechthaberei oder gar dem
Militär wird sich der Konflikt um die Ukraine nicht lösen lassen.
Nötig ist eine Rückkehr zur Realpolitik. Dazu gehört vor allem die
Fähigkeit, sich in die Position der anderen Seite hineinversetzen zu
können. Vorurteile, Ressentiments und das Spiel mit Feindbildern sind
dabei wenig hilfreich.
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