Aachener Nachrichten: Erinnerungslücken – Natürlich war der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung. Ein Kommentar von Joachim Zinsen

Die Umfrage verstört. Fast dreißig Prozent der
Bundesbürger begreifen den 8. Mai 1945 immer noch nicht als Tag der
Befreiung. Dass bei Kriegsende der weit überwiegende Teil der
Deutschen die Kapitulation der Wehrmacht als Schmach und Bedrohung
empfunden hat, ist nachvollziehbar. Die meisten von ihnen waren
zumindest emotional dem NS-Regime lange eng verbunden, viele sogar in
dessen Verbrechen verstrickt. Sie fürchteten die Zukunft, hatten
Angst vor Strafe. Aber heute? Was soll aus unserer Sicht der 8. Mai
1945 anderes gewesen sein als ein Tag der Befreiung? Etwa ein Tag der
Niederlage, der deutschen Demütigung, ein Tag, an dem die harte Zeit
des Hungerns und der Entbehrung begann? Die braune Diktatur war das
Menschen am meisten verachtende Regime der Geschichte. Angesichts
dessen verbieten sich nationale Denkfiguren und Selbstmitleid. Wer
das zu relativieren versucht und den NS-Staat in eine Reihe stellt
mit anderen Unrechtsstaaten, der hat die perfide Einzigartigkeit des
Regimes immer noch nicht verstanden. Trotz jahrzehntelanger
Aufklärungsversuche! Jahrzehntelange Aufklärungsversuche? Halt, das
gilt nur bedingt! Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung, aber er
war keine „Stunde Null“. Alte NS-Funktionseliten zogen vor 70 Jahren
problemlos ihre schmutzigen braunen Hemden aus und neue blütenweiße
an. Aus zehntausenden Tätern wurden in der Adenauer-Zeit Ehrenmänner.
Sie blieben unbehelligt, machten Karriere, beförderten die Karrieren
anderer. Selbst in der Politik. An Aufklärung hatte im Establishment
dieser konservativ-muffigen Gesellschaft kaum jemand Interesse. Erst
der Auschwitz-Prozess, später dann die 68er-Bewegung und schließlich
der altersbedingte Rückzug ehemaliger Nazis aus einflussreichen
Positionen öffneten der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit
allmählich die Augen für die Monströsität der deutschen Verbrechen.
Seit den 80er Jahren hat sich die deutsche Gesellschaft
vergleichsweise intensiv mit dem schlimmsten Kapitel der eigenen
Geschichte beschäftigt. Zumindest mit Teilen davon. Die Shoa, der
millionenfache Massenmord an den europäischen Juden, ist inzwischen
in unserem kollektiven Bewusstsein verankert, die Schuld akzeptiert
und Verantwortung übernommen worden. Doch es gibt auch deutlich
weniger beachtete Opfergruppen. Was ist beispielsweise mit Sinti und
Roma? Sie wurden ähnlich systematisch verfolgt und ermordet wie
Juden. Ihnen gegenüber fehlt der deutschen Gesellschaft bis heute
jede Form von Empathie, jedes besondere Verantwortungsbewusstsein.
Immer noch weitgehend verdrängt ist auch das Wüten von SS und
Wehrmacht in den besetzten Gebieten. Die laufende Diskussion über
griechische Reparationsforderungen macht das deutlich. Höher noch als
in Griechenland war der Blutzoll der slawischen Länder. Dass
Deutschland gegenüber der Sowjetunion einen rassistischen
Vernichtungskrieg führte, der sich grundlegend von der Art des
Krieges im Westen unterschied, ist unter Historikern unstrittig. Aber
diese Schuld hat nie Eingang ins kollektive Erinnern gefunden. Allein
auf dem Gebiet des heutigen Weißrusslands wurde innerhalb von drei
Jahren ein Viertel der Bevölkerung – 2,5 Millionen Menschen –
ermordet. Vergangenen Montag hat sich die Bundesregierung dafür
erstmals offiziell entschuldigt. Es gibt weitere Erinnerungslücken.
Etwa die Behandlung von Kriegsgefangenen. Während die Nazis
festgesetzte Soldaten der Westalliierten vergleichsweise human
behandelten, brachten sie mehrere Millionen ihrer sowjetischen
Gefangenen um. Gut, dass Bundespräsident Joachim Gauck uns jetzt
endlich daran erinnert hat. Neuerdings wird gerne wieder ignoriert,
dass die Rote Armee die Hauptlast beim Niederringen des Nazi-Staates
trug. Ähnlich wie im Kalten Krieg ist das Erinnern an Opfer leider
wieder abhängig von tagespolitischer Opportunität. Angela Merkels
Weigerung, an der russischen Gedenkfeier teilzunehmen, ist dafür nur
ein Beleg. Vieles ist den meisten Deutschen nach dem 8. Mai kaum oder
nur langsam bewusst geworden. Eine Lehre haben sie aus dem Weltkrieg
jedoch schnell gezogen. Militärischem standen sie nach 1945 skeptisch
gegenüber. Eine Armee ja, aber nur zur Landesverteidigung. 70 Jahren
nach der Befreiung versuchen große Teile der politischen Klasse die
Deutschen von dieser Zurückhaltung zu „befreien“. Richtig gelingen
will das offenbar nicht. Die Skepsis ist geblieben. Auch das zeigen
Umfragen. Umfragen,die ein wenig Mut machen.

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