Von wegen hundert Tage Schonfrist – so, wie es
eigentlich üblich ist. Die neue griechische Regierung ist gerade
einmal eine Woche im Amt, schon hat sich ein großer Teil der
deutschen Medien auf sie eingeschossen. Munter wird gezetert,
polemisiert und verbal losgeprügelt – so, als habe mit Alexis Tsipras
der Leibhaftige höchstpersönlich die Akropolis besetzt. Wäre es
allein die „Bildzeitung“, die ihr altes Feindbild von „den faulen
Griechen“ seit Tagen wiederbelebt und nun auch noch um die Variante
„Griechen-Radikalos“ erweitert, man könnte damit leben. Aber
inzwischen vergreifen sich auch viele seriöse Medien im Ton. Im
„Heute-Journal“ spricht die Moderatorin von griechischen
„Revolutionären“. Sorry, Frau Slomka, in Athen hat es keinen Umsturz
gegeben. Syriza ist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen.
Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Der „Spiegel“
will in Tsipras den Albtraum Europas entdeckt haben und verunglimpft
ihn als Geisterfahrer. Nicht in einem Kommentar – was nach rein
journalistischen Kriterien sauber wäre, sondern plakativ auf der
Titelseite. Weil sich der neue griechische Finanzminister Giannis
Varoufakis, ein Mathematiker und international bekannter Ökonom,
wissenschaftlich mit Spieltheorien auseinandergesetzt hat, nennt ihn
der ARD-Korrespondent aus Brüssel „einen Zocker auf hohem Niveau“.
Wahrscheinlich hält der Kollege seine Assoziation auch noch für
originell.
Wenn so etwas Schule macht
Offenbar sind all jene, die über Jahre Griechenland eine angeblich
alternativlose Schocktherapie verordnet und deren fatale
wirtschaftliche und soziale Auswirkung schöngeredet haben, nun
ihrerseits geschockt. Geschockt, weil Tsipras tatsächlich die Chuzpe
besitzt, nach der Wahl zu seinen Wahlkampfversprechen zu stehen und
mit der Spar- und Kürzungspolitik zu brechen. Ist das nicht unerhört?
Wo kommen wir hin, wenn so etwas Schule macht? Kann sich die neue
griechische Regierung nicht eine Erkenntnis des sozialdemokratischen
Vordenkers Franz Müntefering zu eigen machen? Der hat uns doch schon
vor Jahren erklärt, es sei „unfair“, Politiker in
Regierungsverantwortung an dem zu messen, was sie vorher gekündet
haben. Warum nehmen sich die neuen Regierenden in Athen nicht ein
Beispiel an Angela Merkel? Die Kanzlerin genießt in der deutschen
Bevölkerung hohes Ansehen, obwohl sie mehrfach politische
180-Grad-Wenden hingelegt hat. Ja, so hätten es manche in Europa
gerne. Doch die soziale und wirtschaftliche Lage in Griechenland ist
so dramatisch, dass die neue Regierung gezwungen ist, einen
Kurswechsel ohne Wenn und Aber einzuleiten. Die von Merkel maßgeblich
mitentworfene Spar- und Kürzungspolitik war verheerend. Sie hat aus
einem schwerkranken griechischen Patienten einen sterbenskranken
Patienten gemacht. Dieser Giftcocktail muss endlich abgesetzt und
durch eine Wachstumspolitik ersetzt werden.
Abseits des Theaterdonners
Die neue griechische Regierung sagt dies laut und deutlich.
Vielleicht manches Mal etwas zu laut, zu undiplomatisch, zu provokant
– okay, geschenkt. Aber abseits des Theaterdonners hat sie Vorschläge
gemacht, die durchaus diskutabel sind. So schlägt Athen vor, die Höhe
der Schuldenrückzahlung an das Wirtschaftswachstum in Griechenland zu
koppeln. Was spricht eigentlich dagegen? Noch wichtiger ist: Tsipras
hat Strukturreformen angekündigt, die von der Vorgängerregierung
liegengelassen wurden. Bei Antonis Samaras achtete die Troika
haargenau darauf, dass das griechische Gesundheitssystem in den
Abgrund gespart wurde, dass die Renten gekürzt, die Löhne gesenkt,
Tarifrechte ausgehebelt wurden. Als Dank dafür erhielt Athen
finanzielle Unterstützung. Die neue Regierung plant, einen Teil
dieses Kahlschlags zurückzunehmen. Stattdessen will sie dafür sorgen,
dass die griechischen Oligarchen endlich zur Kasse gebeten werden,
dass ein funktionierendes Steuersystem aufgebaut wird. Es wäre
zynisch, der neuen griechischen Regierung für diese sinnvollen
Reformen keine Zeit einzuräumen und ihr ausgerechnet jetzt weitere
finanzielle Daumenschrauben anzulegen. Es wäre zynisch, wenn Europa
sie nicht in dem Versuch unterstützen würde, griechische Vermögende
daran zu hindern, ihr (Schwarz)-Geld ins europäische Ausland zu
bringen. Und es wäre zynisch, wenn deutsche Medien die Bemühungen von
Tsipras nur mit ideologischen Vorurteilen, Klischees und Feindbildern
begleiten würden. Wir brauchen weder eine neue politische, noch eine
neue publizistische Südfront.
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