Aachener Nachrichten: Ihr Spinner! / Auch ein Bundespräsident braucht Redefreiheit / Von Marco Rose

Das Staatsoberhaupt spricht Tacheles: „Wir brauchen
Bürger, die auf die Straße gehen und den Spinnern ihre Grenzen
aufweisen. Dazu sind Sie alle aufgefordert“, sagt Joachim Gauck im
vergangenen Jahr vor Schülern in Berlin. Dort hetzen Bürger im
Stadtteil Hellersdorf gegen ein Flüchtlingsheim – angestachelt von
der NPD. Gauck lobt die starken Gegendemonstrationen. Ein halbes Jahr
später muss er sich deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht
verantworten.

Was wie ein schlechter Scherz klingt, ist Teil eines juristischen
Feldzugs der NPD. Das sollte ein Weckruf an uns alle sein: Von
braunen Spinnern und deren Winkeladvokaten lassen wir uns den Mund
nicht verbieten! Auch ein grundsätzlich zur parteipolitischen
Neutralität verpflichteter Bundespräsident muss sich nicht auf diese
Weise gängeln lassen.

Ja, die Sache mit der Neutralität: Der frühere Bundespräsident und
Bundesverfassungsgerichtspräsident Roman Herzog wurde gestern in der
Verhandlung mit der Einschätzung zitiert, ein Staatsoberhaupt könne
nicht „um jeden Preis neutral“ sein. Man muss ergänzen: Jedenfalls
dann nicht, wenn er Akzente setzen, wenn er etwas bewegen will. Die
Deutschen wünschen sich schließlich einen Bundespräsidenten, der die
Probleme in diesem Land benennt und sich nicht feige wegduckt, wenn
es ungemütlich wird. Und man kann gegen Gauck sagen, was man will:
Der Mann mag bisweilen ein Freund allzu salbungsvoller Worte sein,
aber er ist kein Wegducker. Wenn die NPD unsere Verfassung angreift,
unsere Werte, unsere Demokratie, dann sollte es die vornehmste
Aufgabe des Präsidenten sein, verbal dazwischenzuschlagen. Angesichts
der menschenverachtenden Töne, die die NPD in der Flüchtlingsdebatte
anschlägt, fällt die Bezeichnung „Spinner“ noch geradezu milde aus.

Tatsächlich, auch das wurde gestern noch einmal deutlich, enthält
das Grundgesetz kaum direkte Aussagen darüber, wie der Präsident
seine Aufgaben zu erfüllen hat. Es ist deshalb zu erwarten, dass das
Gericht ihm einen sehr weiten Ermessensspielraum zubilligen wird.
Alles andere wäre eine Überraschung, ja Katastrophe. Denn wer dem
Staatsoberhaupt einen Maulkorb verpasst, der degradiert ihn zum
reinen Grußaugust.

Eines hat die NPD auch so bereits erreicht: Die juristischen
Nadelstiche ihres raffinierten Parteianwalts beschäftigen Karlsruhe
gleich in mehreren Fällen. Man darf die rechten Spinner also nicht
unterschätzen.

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