So, nun kommen hoffentlich alle bald wieder
herunter von den Bäumen und hören auf zu hyperventilieren. Was ist in
den vergangenen Tagen nicht alles an Unsinn dahergeredet worden, um
die Wahl von Bodo Ramelow zum ersten Ministerpräsidenten der
Linkspartei doch noch zu verhindern und das rot-rot-grüne Bündnis
moralisch ins Abseits zu stellen. Nein, in Thüringen entsteht jetzt
keine „DDR-light“, kein neuer SED-Staat. Es bricht dort weder der
Kommunismus aus, noch steht irgendein Freiheitsrecht auf der Kippe.
Ramelow ist keineswegs Vertreter einer obskuren „Drachenbrut“, die
alte Zeiten verklärt. Mit ihm ist ein honoriger Gewerkschafter zum
Regierungschef aufgestiegen, der sich jahrelang für Arbeitnehmer und
die Schwächeren in unserer Gesellschaft eingesetzt hat. Also immer
mit der Ruhe. Der Regierungswechsel in Thüringen ist ein ganz
normaler demokratischer Vorgang. Die CDU mag das mächtig wurmen. Aber
ihr Versuch, ihn im Vorfeld zum großen Tabubruch zu stilisieren, ist
gescheitert. Dabei haben die Christdemokraten in einem Punkt ja
durchaus Recht. Natürlich muss die neue Landesregierung weiter den
Fragen nachgehen: Wer hat sich wie in DDR-Zeiten etwas zu Schulden
kommen lassen? Warum funktionierte der Unterdrückungsapparat so
lange? Was lässt sich daraus für ein demokratisches Gemeinwesen
lernen? Wie kann Opfern der SED-Diktatur heute geholfen werden? Genau
auf diese Punkte ist Ramelow in seiner ersten Rede als
Ministerpräsident gestern aber eingegangen. Er hat weitere Aufklärung
versprochen. Angesichts seines moralischen Kompasses ist nicht zu
befürchten, dass dies nur leeres Geschwätz war. Zumal mit der SPD und
den Grünen zwei Parteien an der Seite des neuen Ministerpräsidenten
stehen, die sich zu Wendezeiten aus DDR-Oppositionellen formiert
haben und die mit alten Seilschaften nun wirklich nichts am Hut
haben. Im Gegenzug muss sich aber auch die CDU Fragen stellen
lassen. Nämlich: Waren ihre lauthals erhobenen moralischen Vorbehalte
gegen einen linken Regierungschef mehr als nur ein scheinheiliges,
machtpolitisches Empörungsritual? Genügt sie selbst den hohen
Ansprüchen, die sie an andere stellt? Im Osten hat die Partei ihre
Vergangenheit als Blockflöte jedenfalls nicht sonderlich intensiv
aufgearbeitet. Im Westen wiederum war es für viele Christdemokraten
jahrzehntelang allenfalls eine lässliche Sünde, dass ihre Partei nach
dem Zweiten Weltkrieg zum Karrierebecken für eine ganze Reihe brauner
Funktionsträger wurde. Und noch bis in unser Jahrhundert hinein hat
sich gerade die Union dagegen gesperrt, einzelne Nazi-Opfergruppen
wie beispielsweise Deserteure zu rehabilitieren. Ernsthafte
Erinnerungsarbeit war das nicht. Wenn der CSU-Generalsekretär Andreas
Scheuer die Wahl von Ramelow trotzdem als einen „Tag der Schande“
bezeichnet, dann schwingt in seinen Worten ein gehöriges Maß an
Doppelmoral mit. Auch er sollte jetzt verbal abrüsten und zunächst
einmal schauen, was das rot-rot-grüne Bündnis in Erfurt auf die Beine
stellt. Die Regierung Ramelow verdient nämlich wie jede andere die
Chance, zu zeigen, ob sie solide regieren kann.
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