Aachener Nachrichten: Kommentar: Künstlicher Konflikt – Die Kampagne der CSU gegen Armutsflüchtlinge; Von Joachim Zinsen

Wir beschäftigen uns oft mit absurden Themen.
Gerade einmal 0,6 Prozent aller Hartz-IV-Bezieher besitzen einen
rumänischen oder bulgarischen Pass. Trotzdem wird seit Wochen darüber
diskutiert, ob es eine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme gibt.
Migranten erhalten in EU-Staaten wie Frankreich, Luxemburg, den
Niederlanden, Österreich, Schweden oder Dänemark meist schneller und
auch bessere finanzielle Überlebenshilfen als in Deutschland.
Trotzdem wird vor allem von der CSU bewusst der Eindruck erweckt, als
stünden Horden arbeitsscheuer Südosteuropäer einmarschbereit an den
deutschen Grenzen, um unsere Sozialkassen zu plündern. Deutschland,
das europäische Zuwanderer-Paradies? Die CSU als Schutzpatron braver
Bürger? Welch ein Unfug! Die Diskussion über Armutszuwanderung hat
längst ein Niveau erreicht, dessen intellektuelle Armseligkeit nur
noch von seiner fehlenden Redlichkeit übertroffen wird. Der CSU ist
es gelungen, eine politische Brühe hochzukochen, in der sich eine
weit verbreitete Europaskepsis mit festgefügten Klischees über Sinti
und Roma gefährlich mischen. (Denn seien wir ehrlich: Der Begriff
„Rumänen und Bulgaren“ wird inzwischen in vielen Köpfen synonym
gesetzt mit „Zigeuner“.) Die Partei spielt mit Ängsten und schürt sie
nach Kräften. Dass sie deshalb völlig zu Recht auch massive Kritik
einstecken muss, scheint die CSU nicht weiter zu stören. Hauptsache,
die Medien greifen das Scheinproblem auf und halten es am köcheln.
Von diesem Popanz sind tatsächlich relevante Themen überlagert
worden. Parallel zu ihrer Kampagne gegen Armutsflüchtlinge hat die
CSU nämlich gefordert, dass es vom vereinbarten Mindestlohn noch
deutlich mehr Ausnahmen geben müsse, als bisher schon geplant sind.
Setzt sie sich in der Koalition durch, hätte das für hunderttausende
Menschen negative Auswirkungen. Warum ist darüber in den vergangenen
Tagen weit weniger gesprochen worden, als über den angeblich
drohenden Raubzug von Ausländern? Und überhaupt: Warum ist die
Gerechtigkeitsdebatte nach dem jüngsten Wahlkampf inzwischen völlig
versandet? Warum wird nicht mehr über unser Steuersystem diskutiert,
obwohl es viele Arbeitnehmer deutlich stärker belastet als
Kapitaleigner? Stattdessen lassen wir uns wieder einmal in einen
künstlichen Konflikt treiben. Polemisiert wird gegen mögliche
Zuwanderer. Schwache werden auf noch Schwächere gehetzt. Es ist ein
gängiges Muster, in dem die jeweilige Randgruppe austauschbar ist.
Mit ihm lässt sich wunderschön von den eigentlichen Problemen und
Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft ablenken. Welch tiefere
Absicht hinter dieser Strategie steckt, hat die Schriftstellerin
Sibylle Berg kürzlich auf den Punkt gebracht: Wer den anderen
Verlierer hasst, hasst den Gewinner nicht. Wer sich bekriegt, streikt
nicht.

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