Aachener Nachrichten: Nur bedingt mächtig – Der 1. Mai oder wo die Gewerkschaften der Schuh drückt. Ein Kommentar von Joachim Zinsen

Ein klein wenig feiern und zufrieden sein können
die Gewerkschaften schon, wenn sie morgen, am 1. Mai, einen Blick
zurückwerfen auf die vergangenen zwölf Monate. Der Mindestlohn, für
den sie lang gekämpft haben, ist endlich Gesetz. Ebenso die Rente mit
63 bei 45 Versicherungsjahren. Auch in den Tarifrunden haben die
Arbeitnehmervertreter einige durchaus ordentliche Lohnsteigerungen
durchsetzen können. Also ist alles bestens oder zumindest auf einem
guten Weg? Nein, von ihren goldenen Zeiten, den 70er Jahren, sind die
Gewerkschaften nach wie vor weit entfernt. Denn immer noch wirken
Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“, Gerhard Schröders famose
Agenda-Politik sowie der jahrelange mediale Kreuzzug konservativer
und marktradikaler Publizisten „für mehr Eigenverantwortung des
Einzelnen“ negativ nach. Durch sie ist der Solidaritätsgedanken in
unserer Gesellschaft massiv beschädigt worden. Durch sie sind die
Gewerkschaften als verstaubter, uncooler Klub grauer Funktionäre
bewusst desavouiert und marginalisiert worden. Zwar hat sich die
Sicht auf die Dinge seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise,
seit dem Abflauen der Hochkonjunktur für neoliberale Parolen, etwas
zum Positiven geändert. Der DGB ist mittlerweile sogar wieder ein
gesuchter Partner der Politik. Trotzdem stehen die Gewerkschaften vor
einem Problem. Das ihnen jahrelang nicht nur von eingefleischten
Gegnern, sondern auch von vermeintlichen Bündnispartnern wie der
Schröder-SPD angeheftete Negativ-Image haben sie bis heute nicht
vollständig abschütteln können. Deshalb fällt es ihnen immer noch
schwerer als früher, junge Leute zu begeistern. Zwar steigt bei
einigen Einzelgewerkschaften wieder die Mitgliederzahl. Aber bei
ihnen handelt es sich um jene, die in den Betrieben ihrer Branche
schon heute gut organisiert und damit wirkungsmächtig sind, die für
Arbeitnehmer etwas herausholen können. In Wirtschaftszweigen mit
schwachem Organisationgrad – wie zum Beispiel dem Einzelhandel –
bleiben die Gewerkschaften hingegen weiter schwach, haben kaum
Zulauf, eben weil sie nur schwache Tarifabschlüsse durchsetzen
können. Die Gewerkschaften suchen bislang vergeblich nach einer
Strategie, wie sie Arbeitnehmer gerade aus solchen Branchen davon
überzeugen könnten, dass sie sich mit ihrer gewerkschaftsskeptischen
Haltung ins eigene Fleisch schneiden. Probleme mit „Studierten“
Ähnliche Probleme haben sie bei „Studierten“. Auch von ihnen sind
immer noch relativ Wenige gewerkschaftlich organisiert. Dabei gehören
beispielsweise Ingenieure und IT-Spezialisten häufig zu denen, die
immer stärker an die Stelle der klassischen Facharbeiter treten. Sie
sind lohnabhängige Fachkräfte. Sie gilt es davon zu überzeugen, dass
Gewerkschaften längst nicht mehr das Sammelbecken des unterdrückten
Proletariats, sondern eine moderne Arbeitnehmervertretung sind. Ihnen
gilt es klar zu machen, dass sie sich mit jedem Standesdünkel selbst
schwächen. Gelingt das den Gewerkschaften, können sie zu alter Stärke
zurückfinden. Gelingt es ihnen nicht, sind sie auch künftig nur sehr
bedingt mächtig.

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