Aachener Nachrichten: Reine Notwehr – Draghi musste handeln, weil Politiker versagt haben. Ein Kommentar von Joachim Zinsen

Die Kritik, mit der aus Deutschland nahezu jede
Entscheidung der Europäischen Zentralbank begleitet wird, hat schon
etwas Bizarres. Jahrelang sah sich EZB-Chef Mario Draghi mit
lautstarken Vorwürfen konfrontiert, seine „Politik des billigen
Geldes“ führe zwangsläufig zu einer hohen Inflation. Die wildesten
Horror-Szenarien wurden von ordo-liberalen Ökonomen an die Wand
gemalt. Doch wo bleibt sie, die große Geldentwertung? Nirgendwo ist
auch nur eine Spur von ihr zu sehen. Eingetreten ist das genaue
Gegenteil: Inzwischen wird das für die Euro-Zone vereinbarte
Inflationsziel von 1,9 Prozent weit unterschritten. Die gleichen
Kritiker nörgeln jetzt wieder. Dieses Mal heißt es: Der gestern
angekündigte Schritt der EZB, in großem Stil Anleihen zu kaufen, sei
voreilig und müsse wirtschaftlichen Notzeiten vorbehalten bleiben.
Wie bitte? Die meisten Staaten der Euro-Zone kämpfen mit einer hohen
Arbeitslosigkeit und stagnierender Wirtschaftskraft. Der gesamten
Währungsunion droht eine Deflation, also eine brandgefährliche
Abwärtsspirale aus fallenden Preisen und einer immer weiter
nachlassenden Investitionstätigkeit, aus sinkenden Löhnen und einer
abnehmenden Kaufnachfrage. Ist das etwa keine Notlage? Nein, Draghis
Schritt war nicht nur richtig, er war überfällig. Der EZB-Chef
spielte gestern den Ausputzer, handelte in Notwehr. Er musste
reagieren, weil die Regierungen der Euro-Staaten mit ihren bisherigen
Rezepten die Wirtschafts- und Finanzkrise einfach nicht in den Griff
bekommen. Freilich sollte sich niemand von Draghis Intervention
Wunderdinge versprechen. Durch die Anleihen-Aufkäufe sinkt zwar der
Wert des Euro im Vergleich zum Dollar. Dadurch wird die
Wettbewerbsfähigkeit des Euro-Raums erhöht, haben Export-Unternehmen
bessere Chancen auf außereuropäischen Märkten. Doch alleine mit der
Geldpolitik kann die Wirtschaftskrise in der Währungsunion nicht
überwunden werden. Notwendig ist auch eine politische Kursänderung.
Der Euro-Raum braucht endlich eine Investitionsoffensive vor allem
der öffentlichen Hand. Die neue EU-Kommission hat zwar Pläne in diese
Richtung. Doch sie sind bisher halbherzig und finanziell zu gering
ausgestattet. Verheerende Folgen Bleibt das Problem, die
Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten innerhalb des Euro-Raums
anzugleichen. Bisher wurde versucht, das Ziel durch eine rigide Spar-
und Lohnkürzungspolitik in den sogenannten Krisenländern zu
erreichen. Die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen
dieser „Strukturreformen“ sind vor allem in Griechenland, Spanien
oder Portugal zu sehen. Frankreich und Italien werden in eine
ähnliche Richtung gedrängt. Angleichen lässt sich die
Wettbewerbsfähigkeit jedoch auch durch kräftige Lohnerhöhungen in
Euro-Ländern, in denen während des vergangenen Jahrzehnts die
Lohnentwicklung deutlich hinter der Produktivitätsentwicklung
zurückgeblieben ist. Vor allem Deutschland könnte mit gutem Beispiel
vorangehen. Doch genau über diese Kehrtwende wollen all die Kritiker
Draghis nicht einmal nachdenken. Deshalb lamentieren sie jetzt
lauthals, das Anleiheprogramm der EZB dürfe nur ja nicht den
Reformdruck auf einzelne Euro-Staaten mindern. Dass dieser Kurs
manche Länder auch politisch immer tiefer in die Krise stürzt,
scheint sie dabei nicht zu stören.

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