Langsam geht jedes Maß verloren. Man muss Claus
Weselsky nicht lieben, kann den Chef der Gewerkschaft Deutscher
Lokführer ja durchaus kritisch sehen. Aber wie mit seiner Person
derzeit in der Öffentlichkeit umgegangen wird, ist einfach skandalös.
Das Magazin „Focus“ zeigt Weselskys Haus. Die Bildzeitung
veröffentlicht die Telefonnummer des Gewerkschafters und fordert ihre
Leser auf, dem „Größen-Bahnsinnigen“ die Meinung zu geigen. Das ist
ein Aufruf zur Menschenjagd. Gut, von der „Bild“ sind solche
bösartigen Kampagnen immer zu erwarten. Doch selbst Teile der
„seriösen“ Medien beschreiben das CDU-Mitglied Weselsky inzwischen
als einen machtbesessenen Psychopathen, als einen Egomanen, als einen
Mann, der mit dem Ausstand der Lokomotivführer eine ganze Republik in
Geiselhaft nimmt. Vermeintlich kluge Köpfe schimpfen über einen
unpatriotischen Streik. Plötzlich stehen Gewerkschafter als
vaterlandslose Gesellen da, nur weil sie zum Arbeitskampf aufrufen.
Herrschaften, sind wir geistig bereits wieder im Kaiserreich
angekommen? Weselsky und die Lokomotivführer nehmen ein zentrales
Grundrecht wahr. Ein Streik ist aber nur dann ein Streik, wenn er
wehtut, wenn damit wirtschaftlicher Druck auf den Arbeitgeber erzeugt
wird. Alles andere ist Beschäftigungstherapie, ist Ringelpiez mit
Anfassen. Im Falle des Arbeitskampfes bei der Bahn gehören natürlich
deren Kunden zu den Hauptleidtragenden. Das liegt leider in der Natur
der Sache und nervt viele. Aber vielleicht denkt der ein oder andere
Empörte ja doch einmal daran: Auch sein Gehalt wäre (noch) deutlich
niedriger, gäbe es nicht Gewerkschaften, die stark sind, kämpfen und
notfalls zum Streik aufrufen. Um dem Streik der Lokomotivführer die
Berechtigung abzusprechen, ist dessen Gegnern derzeit offenbar kein
Argument zu blöde. Der GDL wird vorgeworfen, dass sie nicht nur für
die im europäischen Vergleich miserabel bezahlten Lokführer einen
höheren Lohn erstreiten wollen, sondern auch für Zugbegleiter und
andere bei ihr organisierte Bahnangestellte. Das ist allein schon
deshalb bemerkenswert, weil der GDL bei ihrem letzten Arbeitskampf
2008 genau das Gegenteil vorgehalten wurde. Damals hieß es, sie
betreibe unsolidarische Rosinenpickerei, weil sie sich nur um die gut
organisierten und an strategisch wichtigen Positionen sitzenden
Lokführer kümmere. Wie passt das zusammen? Interessiert die Kritiker
noch ihr Geschwätz von gestern? Natürlich vertritt die GDL abgesehen
von den Lokführern nur eine Minderheit der Bahnangestellten. Doch für
sie zu kämpfen, ist ihre Aufgabe. Die Spartengewerkschaft kann
deshalb auch nicht Teile des Streikrechts aufgeben. Genau das aber
macht die Bahn zur Bedingung, um mit der GDL überhaupt erst in
Tarifverhandlungen einzusteigen. Die Arbeitgeber führen inzwischen
ins Feld, in einem Betrieb dürfe es keine konkurrierenden
Tarifverträge geben, weil man Personalarbeit aus einem Guss machen
wolle. Die kleine GDL habe sich deshalb zugunsten der großen
DGB-Gewerkschaft EVG zurückzunehmen. Das ist – mit Verlaub – ein
freches, ein rotzfreches Argument. Denn gerade die Arbeitgeber waren
es doch, die der Tarifeinheit schweren Schaden zugefügt haben. Wer
hat denn in den vergangenen Jahren auf Teufel komm raus outgesourct?
Wer hat im großen Stil auf Leiharbeit gesetzt? Wer hat dafür gesorgt,
dass heute oft Arbeitnehmer nebeneinander sitzen, die die gleiche
Tätigkeit zu völlig unterschiedlichen Tarifbedingungen leisten? Nein,
so sinnvoll und wünschenswert eine Tarifeinheit wäre, sie ist von der
Arbeitgeberseite dem Prinzip des allumfassenden Wettbewerbs geopfert
worden. Jetzt darüber zu jammern, dass es diesen Wettbewerb auch
unter Gewerkschaften gibt, ist scheinheilig. Weselsky und die GDL
sind inzwischen medial zum Feindbild schlechthin aufgebaut worden.
Sicherlich liegt das auch an einer glänzenden PR-Kampagne der Bahn
und einer schlechten PR-Strategie der Spartengewerkschaft. Aber
manche Kritiker müsen aufpassen, dass sie sich nicht ins eigene
Fleisch schneiden. Zum Beispiel einige Gewerkschafter im DGB. Sie
empfinden die GDL als Konkurrenz, wollen sie wegbeißen.
Verständlich. Doch in ihrem Furor sollten sie eines nicht übersehen:
Manchen, mit denen sie da plötzlich in einer Reihe stehen, geht es um
mehr als nur um den Arbeitskampf der GDL. Nicht allein „Bild“ und
Konsorten wollen das Streikrecht generell zu einem zahnlosen
Papiertiger machen.
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