In Europa werden Juden angegriffen und ermordet,
weil sie Juden sind – nicht nur gestern, sondern heute. Dass sich
Juden in Europa und Deutschland unwohl und bedroht fühlen, dass sie
bedroht sind und angefeindet werden, ist 70 Jahre nach Auschwitz
furchtbare Realität. Die als Normalität hinzunehmen, wie es leider
allzu oft geschieht, zeugt von monströser Gefühlskälte – erst recht
im Land der Täter, in dem unzählige Mörder von Auschwitz und anderen
Vernichtungslager jahrzehntelang unbehelligt gelebt haben. Die Frage,
wie es möglich ist, dass sich eine Kulturnation in kurzer Zeit zu
einem Staat der Barbarei umkrempeln lässt, beschäftigt jeden, der
Demokratie und Freiheit schätzt. Damals galt auf einmal das nichts
mehr, was menschenwürdiges Leben und respektvolles Zusammenleben
ausmacht. Es ist keine ferne Geschichte, sondern gehört zu der Zeit,
die uns und unsere Gesellschaft direkt geprägt hat; unsere Eltern,
Großeltern und Urgroßeltern haben es erlebt. Wie sicher sind denn die
europäischen Demokratien und ihre liberalen Gesellschaften? Sind sie
stark und selbstbewusst und streitbar genug, um sich zu engagieren,
wenn entschlossene Fanatiker versuchen sollten, unsere Grundwerte zu
entwurzeln? Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz – als
Jugendlicher nach Auschwitz und Buchenwald verschleppt – äußert sich
dazu heute sehr skeptisch. Wenn uns das nicht zu denken gibt! Dass
Juden und gerade Holocaust-Überlebende, die sich in diesen Tagen und
Wochen äußern, mehr Empathie für sich und für den jüdischen Staat
wünschen, ist richtig und nötig; es ist das Mindeste, auf das sich
Demokraten hierzulande verständigen müssten. Solche Appelle stoßen
aber leider häufig auf Gleichgültigkeit – auch bei manchen, die im
Namen des Friedens immer wieder demonstrieren. Solche Appelle hat in
den letzten Tagen zum Beispiel die Auschwitz-Überlebende Eva Erben an
die Deutschen gerichtet. Sie hat Anspruch darauf, dass man das ernst
nimmt. „Die Folter verlässt den Gefolterten nicht, niemals, das
ganze Leben lang nicht“, hat die Literaturwissenschaftlerin Ruth
Klüger in ihrem Buch „Weiter leben“ geschrieben. Sie wurde als
jüdisches Mädchen nach Auschwitz und Theresienstadt verschleppt.
Diese kluge, großartige Frau hat viel dafür getan, dass Nachgeborene
das Leid der Opfer in etwa nachvollziehen können. Als Sechs- jährige
empfand sie 1938 zum ersten Mal, dass sie bedroht ist. Dieses Gefühl
hat sie in ihrem gesamten Leben nicht mehr verlassen. „Ich kenne es
nur so. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen“, hat sie vor
Jahren in einem Interview mit unserer Zeitung gesagt. Sich – nicht
nur am Holocaust-Gedenktag – an die deutschen Verbrechen zwischen
1933 und 1945 zu erinnern, verlangt der einfache menschliche Anstand
von jedem – egal, wann er geboren ist. Auschwitz sei der Stachel im
deutschen Nationalgefühl, sagte gestern der Hannoveraner
Sozialpsychologe und Antisemitismusforscher Rolf Pohl. Der Stachel
tut weh. Die Bundesrepublik Deutschland würde keine gute Zukunft
haben, wenn er irgendwann nicht mehr schmerzt.
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