Dass man vier Monate nach der Bundestagswahl
ausgerechnet die gar nicht leise, gar nicht zurückhaltende, nach
außen hin gar nicht diplomatisch handelnde SPD-Fraktionsvorsitzende
Andrea Nahles jetzt als eine der wesentlichen Figuren auf dem langen
Weg zu einer Kompromiss-Regierung betrachten darf – wer hätte das
gedacht? Die „Ab-morgen-in-die-Fresse“-Propagandistin, die
„Bätschi“-Ausruferin ist zu einer verlässlichen Akteurin auf dieser
Bühne mit zu vielen Halbprofis, Blendern und Wichtigtuern geworden.
Nicht erst seit ihrer geschrienen Rede beim Bundesparteitag in Bonn
zeigt sie, wo es lang gehen soll. Sie hat die Führung der SPD, die im
Chaos zu versinken droht, übernommen. Sie versucht zu retten, was
noch zu retten ist. Das wird zwar wenig sein, weil eine ehemals
stolze Partei sich selber dramatisch kleingeredet hat. Wenn alles gut
geht, ist Nahles die große Siegerin, misslingt es, wird sie schwer
angeschlagen sein, dann auch sie. Die SPD ist aufgewühlt, gespalten,
widersprüchlich, ratlos. Was für ein furchtbares Dilemma: Manche
verharren in Lethargie, andere reden sich die Opposition schön und
träumen von einer imaginären Erneuerung, als falle diese in
wundersamer Weise von irgendeinem rosaroten linken Himmel. Was macht
eine Partei mit einem Vorsitzenden, der mit pathetischen Worten im
Wahlkampf erklärt, niemals, wirklich niemals in ein Merkel-Kabinett
einzutreten? Der das so darstellt, als sei dies die größte Zumutung
seiner politischen Karriere. Der es nicht einfach nur sagt, sondern
es verkündet. Wenige Minuten nach der krachenden Wahlniederlage kommt
es zur nächsten umjubelten Verkündigung: Raus aus der großen
Koalition! Das hört sich nicht wie eine rhetorische Kurzatmigkeit an.
Man ist als externer Beobachter geneigt, eher das Gegenteil zu
vermuten: Hier verschafft jemand sich und seiner Partei Luft. Und das
Präsidium gibt ihm später einstimmigen Rückenwind. Die Fronten sind
geklärt! Es hat nicht sollen sein; denn in der SPD ist nichts
geklärt, aber sehr wohl gibt es jetzt neue Fronten: zwischen Jung und
Alt, zwischen Parteiführung und Basis, gewiss auch zwischen Martin
Schulz und Sigmar Gabriel. Die neu gewählte Bundestagsfraktion nimmt
niemand mehr wahr. Und damit ist vor lauter Hickhack zwischen Boden-
und Führungspersonal, Abstimmungen und Neueintritten, Sondierungen
und ihren seltsam unterschiedlichen Interpretationen ein Vakuum
entstanden. Entspricht das noch der gebotenen Ernsthaftigkeit einer
repräsentativen Demokratie, in der frei gewählte Abgeordnete so
offensichtlich keine Rolle spielen? Neu ist auch das nicht, aber in
diesem Totalausfall gewöhnungsbedürftig. Was sind das für Politiker,
die angesichts allseits bekannter Herausforderungen nicht fähig sind,
Projekte und Perspektiven zu beschreiben und auf einen
lösungsorientierten Weg zu bringen, statt lähmende Besserwisserei und
Starrsinn unverdrossen so zu pflegen, als gäbe es keine AfD und nicht
die Wucht real existierender Probleme? Und die, wie bei Rente,
Bildung und Digitalisierung, nur über viele zusätzliche Milliarden
Euro eine Einigung erzielen. Gegenfinanzierung? Das ist ein Fremdwort
und bei der Gesprächskultur der Herrschaften gewiss sogar ein Tabu.
Es stößt die mündigen Menschen in dieser Gesellschaft allmählich ab,
dass sie – wie auch in dieser Woche – fast jeden Tag vollmundige
Erklärungen der in die Mikrofone der Nation sprechenden
Koalitionsherbeiführungsversuchsunterhändler ertragen müssen. Jeder
erklärt, was er angeblich durchgesetzt hat, warum nur er der Sieger
ist und nicht die anderen. Dieses Primitiv-Schema ist out, von
gestern, liebe Freundinnen und Freunde der Noch-Volksparteien! Steht
nun zu Euren teuren vereinbarten Kompromissen, und wenn Ihr das nicht
wollt, dann haltet einfach mal den Mund. So einfach kann das sein.
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