Aachener Zeitung: Kommentar: Abgesang aufs Netz / In Kriegszeiten sind Facebook& Co. kontraproduktiv / Amien Idries

Es ist an der Zeit, einen Abgesang auf das Internet
als Instrument der Demokratieförderung und Wahrheitsfindung
anzustimmen. Der Arabische Frühling und seine sich via Facebook
organisierenden Revolutionäre hatten vielerorts die Hoffnung
ausgelöst, dass dem Netz per se eine aufklärerische und befreiende
Dynamik innewohnt. Diese Annahme, der auch der Autor dieser Zeilen
anhing, war naiv. Vor dem Hintergrund der derzeit im Netz
stattfindenden Propagandakriege um den Nahen Osten und die Ukraine
muss man zu einem deprimierenden Schluss kommen: Bei stark
emotionalisierten Konflikten hilft das Internet nicht nur nicht, der
Wahrheit auf die Spur zu kommen, nein, es ist sogar kontraproduktiv.
Dieses Fazit muss ziehen, wer sich einmal einen Vormittag lang durch
wahlweise antisemitische oder antiislamische Kommentarspalten
geklickt oder Webseiten besucht hat, die hier Putin, dort der Nato
jeweils die gesamte Verantwortung für den Krieg in der Ostukraine
anlasten. Warum aber gibt es dennoch Menschen, die meinen, durch den
Konsum möglichst vieler verwackelter Handy-Videos unklarer Herkunft
besonders gut informiert zu sein?

Authentizität schlägt Objektivität:

Zweifel an der Objektivität von klassischen Medien sind so alt wie
die Medien selbst. Zum Gegenspieler wird durch die sozialen Medien
nun die Authentizität von Augenzeugen. Egal ob Videos oder
Twitter-Meldungen, egal ob aus Gaza, Tel Aviv oder Donezk: Leid,
Angst oder Trauer direkt von den Betroffenen sind wirkmächtiger als
jedes noch so hintergründige Stück eines Journalisten. Die
Authentizität schlägt angezweifelte Objektivität. Was dadurch
verloren geht, ist Komplexität. So schrecklich die Bilder von
getöteten Kindern im Gaza-Streifen auch sind, sie sind nur ein Teil
eines riesigen Schreckensgemäldes im Nahen Osten. Es gibt natürlich
auch im Internet ausgewogene und hintergründige Darstellungen der
Konflikte, die aber gehen derzeit im Kriegspropagandageschrei unter.
Was viele überdies vergessen, ist, dass hinter jedem Video, jedem
Tweet immer ein Absender steht. Ein Absender, den wir nicht kennen,
der aber meist Partei sein dürfte. Nicht zu reden von den vielen
Fälschungen, die über Facebook bereits Eingang in die Debatte
gefunden haben.

Freund oder Feind? Krieg ist die finale Zuspitzung des
Gegeneinanders. Wir gegen die. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Auch den vermeintlich Unbeteiligten lassen die Nachrichten und Bilder
aus Kriegsgebieten- zum Glück – nicht kalt. Er will sich
positionieren, Partei ergreifen. Kriegszeiten sind deshalb
Schwarz-Weiß-Zeiten, Grautöne verschwinden. Äußerungen wie „Ja, aber“
oder „Einerseits, andererseits“ werden meist als Plädoyer für den
Gegner interpretiert. Dieser Schwarz-Weiß-Malerei kommen vor allem
die sozialen Netzwerke sehr entgegen.

Das Problem der Echokammern:

Wir Menschen mögen keine Informationen, die unser Weltbild
erschüttern. Deshalb neigen wir dazu, Informationen so auszuwählen,
zu suchen und zu interpretieren, dass sie unsere Erwartungen
erfüllen. Diese kognitive Verzerrung, die der Psychologe Peter Wason
1968 Bestätigungsfehler genannt hat (engl. = confirmation bias), wird
durch das Internet verstärkt. Automatische Benachrichtigungen durch
RSS-Feeds, Schlagworte mittels Hashtags und die Freundesliste auf
Facebook liefern die perfekte Infrastruktur, um unsere Meinung wie in
einer Echokammer fortwährend zu bestätigen, so dass wir nach einer
Runde durch „unser“ Netz noch überzeugter sind, dass das eigene
Weltbild das richtige ist. Das gilt für den Putinfreund ebenso wie
für den Putinhasser, für den Palästinensersympathisanten ebenso wie
für den Israelverteidiger.

Aus all dem folgt ein Plädoyer für klassischen Journalismus. Gute
Zeitungen, TV-Magazine und Blogs liefern Komplexität, erlauben sich
ein „Ja, aber“ und konfrontieren uns fundiert mit einer anderen
Meinung. Das kann besonders in emotionalen Kriegszeiten viel wert
sein.

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