In der Theorie wird man hierzulande viele
lautstarke Verfechter rechtsstaatlicher Prinzipien finden.
Unschuldsvermutung? Muss sein! Rückwirkungsverbot, also keine Strafe
ohne Gesetz? Unbedingt notwendig! Der Grundsatz „im Zweifel für den
Angeklagten“? In einem Rechtsstaat zwingend! So wird es aus vielen
Kehlen klingen. Schwerer haben es diese Werte jedoch in der Praxis,
wie der Fall Edathy zeigt. Denn je abscheulicher eine mutmaßliche Tat
und je unsympathischer der mutmaßliche Täter, desto schwieriger fällt
offensichtlich die Verteidigung des Rechtsstaates. Etwas
Unmoralischeres als den Konsum von kinderpornografischem Material
kann man sich kaum vorstellen. Und Edathy dürfte durch seine
nassforschen und arroganten Auftritte alle Sympathien verspielt
haben. Dies alles aber darf den Rechtsstaat nicht interessieren. Er
hat, wenn es um die Einhaltung seiner Prinzipien geht, blind dafür zu
sein, ob es um einen mutmaßlichen Kindermörder, Steuerhinterzieher
oder Handtaschenräuber geht und ob der Täter sympathisch, reumütig
oder arrogant ist. Es ist nicht sonderlich heroisch, bei Veruntreuung
oder Ladendiebstahl für die Unschuldsvermutung einzutreten. Nein, der
Rechtsstaat steht besonders dann auf dem Prüfstand, wenn ein wütender
Mob in den sozialen Medien bereits die Messer wetzt und den
„Kinderschänder“ an den digitalen Pranger stellt. Im Fall Edathy hat
der Rechtsstaat offensichtlich versagt. Das zeigt insbesondere die
Tatsache, dass die Einstellung des Verfahrens keinen Effekt haben
wird. Das ansonsten normale Procedere der rechtlichen Prüfung eines
Vorwurfs, an dessen Ende Freispruch, Verurteilung oder eben die
Einstellung des Verfahrens steht, wurde ausgehebelt. Edathy ist nicht
vorbestraft und trotzdem gesellschaftlich tot. Wer dafür
verantwortlich ist? Das ist schwer zu sagen. Wohl am ehesten eine
Gemengelage: die Staatsanwaltschaft, die allzu eifrig zu Werke ging,
mutmaßlich Informationen weitergab und den schmalen Grat zwischen
illegitimem und illegalem Verhalten ignorierte; manche Medien, die
sich in mindestens einem Fall unredlich verhielten, als sie Fotos von
der Durchsuchung veröffentlichten; die Internet-Öffentlichkeit, die
per se zur Undifferenziertheit neigt und in der die lauten
Selbstjustiz-Stimmen gestern noch einmal zur Hochform aufliefen. Klar
ist, den Rechtsstaat kann man nur gemeinsam verteidigen. Und Edathy?
Man kann dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten vieles vorwerfen: den
Umgang mit seiner pädophilen Neigung, aber vor allem sein kaltes und
gegenüber den Opfern herzloses Auftreten im Zuge der Affäre. All dies
rechtfertigt aber nicht, dass in seinem Fall grundlegende
rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt wurden. Verfechter
des Rechtsstaates kann das nicht kalt lassen. Denn, wenn der
Rechtsstaat nicht für alle gilt – auch für Edathy -, dann führt er
sich selbst ad absurdum.
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