Aachener Zeitung: Nun versteht doch die CSU! / Eine Regionalpartei leidet schwer unter ihrer Ohnmacht / Kommentar von Peter Pappert

Wer sich über politische Vorkommnisse oder
Entwicklungen aufregt, die der eigenen Haltung oder Überzeugung
widersprechen, wird alles daran setzen, für Alternativen zu kämpfen.
Welche Alternativen hat die CSU also zur kratzbürstig-schwesterlichen
Gemeinsamkeit mit der CDU? Keine erfolgversprechenden. Deshalb leidet
man in München unter peinigenden Ohnmachtsgefühlen, die zu immer
neuen wilden Rundumschlägen verleiten. Führende CSU-Politiker lehnen
die Flüchtlingspolitik der von ihrer Partei mitgetragenen
Bundesregierung ab. Die CSU könnte die Koalition verlassen; sie würde
dadurch maßgeblichen Einfluss verlieren, und viele ihrer Wähler wären
damit nicht einverstanden. Sie könnte die gemeinsame Fraktion im
Bundestag aufkündigen; sie würde dadurch maßgeblichen Einfluss
verlieren, und viele ihrer Wähler wären damit nicht einverstanden.
Sie könnte im kommenden Jahr einen völlig eigenständigen
Bundestagswahlkampf führen – womöglich gar gegen die CDU – und eine
gemeinsame Kanzlerkandidatin ablehnen; sie würde dadurch maßgeblichen
Einfluss verlieren, und viele ihrer Wähler wären damit nicht
einverstanden. Die CSU-Führung versteht ihre Partei als
kraftstrotzendes Mannsbild gegenüber einer
links-öko-gender-verseuchten Merkel-CDU und leidet darunter, dass sie
keine Bundes-, sondern nur eine Landespartei ist. Das könnte sie
ändern und sich aufs gesamte Bundesgebiet ausdehnen. Bevor sie auch
nur in der Hälfte Deutschlands halbwegs etabliert wäre, würde die CDU
in Bayern schon Koalitionsverhandlungen auf Kommunal- wie Landesebene
mit Grünen, FDP, SPD und – eben – auch mit der CSU führen. Deren
absolute Mehrheit wäre ein für alle Mal dahin; sie würde dadurch
maßgeblichen Einfluss verlieren, und viele ihrer Wähler wären damit
nicht einverstanden. Da soll man nicht fuchsteufelswild werden!?!? Im
Rest der Republik gibt es viel Verständnis für die tiefe Frustration
einer Partei, die vor Kraft kaum laufen kann und deshalb nicht weiter
kommt. Schon jener Legendäre unter Seehofers Vorgängern – der
sagenumwobene Franz Josef Strauß – konnte schier platzen vor Wut über
Kohls Liebe zur FDP, Weizsäckers Weisheit und Noblesse, Geißlers Neue
Soziale Frage, Blüms Barmherzigkeit und Süssmuths Liberalität. Aber
im Vergleich mit Seehofer war der Vulkan-Politiker Strauß geradezu
berechenbar. Deshalb ist es gut, dass Wolfgang Schäuble der Kragen
geplatzt ist. Dass die CSU meint, Sticheleien gegen die CDU seien
nötig, um in Bayern erzkonservative Wähler bei der Stange zu halten,
weiß die CDU und erträgt es geduldig seit Jahrzehnten. Unionsinternen
Streit zu dämpfen und sich klug zurückzuhalten, statt jede bayerische
Watschn mit gleicher Schlagkraft heimzuzahlen, ist an sich ein
vernünftiges Prinzip. Aber Seehofers persönliche Dauerattacke gegen
die Kanzlerin muss und kann sich die CDU nicht länger bieten lassen.
Bei allem Mitleid und allem Verständnis für Schmerz und Ohnmacht
einer weiß-blauen Regionalpartei: Ein Mindestmaß an Vernunft und
Anstand muss die CSU schon gewährleisten.

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