Leute, die Visionen haben, müssen nicht, wie einst
Helmut Schmidt meinte, zum Arzt. Man sollte in Zeiten des politischen
Kleinstpepitas, Beispiel Jamaika-Sondierungen, nach Visionären
fahnden; denn sie verfolgen ein Ziel. Sie entwickeln eine
Vorstellung. Sie betreten mit ersten Schritten einen Weg. Sie
orientieren sich nach vorne. Sie beschreiben Meilensteine, die
erreichbar sein werden, und sie möblieren mit kühnen Gedanken
Traumschlösser, die sich teilweise dann doch als zu ambitioniert
erweisen. Aber sie tun was! Sie gehören nicht zu denen, die in der
gepflegten Langeweile des „Weiter so“ Bedenken einsammeln, sondern
riskieren es, mit der Faszination für das Neue auch belächelt und
nicht ernstgenommen zu werden. Sie verwalten nicht scheinbar noch
lang existierende Wohlfühlzonen, sondern sie begeben sich an die
Spitze einer dynamischen Bewegung. Sie schauen nicht aufs Erreichte
(und damit schon Vergangene), sondern sehen die Gefahren, die
zukünftig drohen, wenn man sich nötigen Veränderungen verweigert.
Emmanuel Macron hat Visionen. Das halten manche für bedenklich. Der
französische Staatspräsident hat sogar europäische Visionen. Das
empfinden einige Realpolitiker (also Akteure, die irrtümlich glauben,
sie seien auf dem Boden der Tatsachen) als unerträglich. Sie gehören
in Deutschland einer großen Fraktion an, die aus Angst vor den
Wählerinnen und Wählern und noch mehr vor der AfD nicht mehr viel von
einem gemeinsamen Europa wissen will. Sie werfen dem populistischen
Original eine fade Kopie hinterher. Es war mutig, mit dem Thema
Europa in den Wahlkampf zu ziehen. Macron gelang es, die rechte
Flanke relativ klein zu halten. Das war zunächst und in erster Linie
ein Meisterstück politischer Strategie, dann erst ein europäisches.
Macron hat nach seiner Amtseinführung jedoch den europäischen Faden
nicht verloren, sondern mit Verve weitergesponnen. Diese Kontinuität
und die Wucht seiner Aussagen sind einzigartig – und deshalb
umstritten. Gut so! Diese Debatte spricht für, nicht gegen ihn. Sie
überhaupt angestoßen zu haben, ist sein hohes Verdienst. „Wir haben
keine Zeit mehr“: Das ist wohl einer der wichtigsten Sätze seiner
schon heute legendären Pariser Sorbonne-Rede. Diese Rede ist konkret
– und schon deshalb etwas Außerordentliches, Seltenes,
Bemerkenswertes. Diese präzisen Aufzählung platzte mitten in die
verschachtelte Rhetorik der Berliner Jamaika-Freunde. Welcher
Kontrast! Zum ersten Mal sprach ein französischer Präsident von
europäischer Souveränität. Ob Charles de Gaulle und François
Mitterrand sich im Grabe umgedreht haben? Das Votum für Macron ist,
bei allem Respekt vor Skeptikern, Zögerlichen und Bedenkenträgern,
uneingeschränkt zu begrüßen. Der 39-Jährige bleibt ein
Hoffnungsträger in einer schlappen EU und ein erfolgreicher Gegner
nationalistischer Stimmungsmacher, die bei jedem wichtigen Schritt
Richtung Europa die Wahrung der nationalen Identität gefährdet sehen.
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