Im Vorfeld des von der Bundesregierung geplanten
Versorgungsgesetzes wird zurzeit darüber gestritten, wie die
medizinische Versorgung auf dem Lande verbessert und zugleich ein
Zuviel an Ärzten in Ballungsgebieten abgebaut werden kann. Denn es
drohen Engpässe in der medizinischen Versorgung auf dem Land, während
es im städtischen Raum schon lange ambulante und stationäre Hoch- und
Überversorgung gibt. Dabei geht es neuerdings auch um die Frage, wie
viele Stunden die Ärzte überhaupt für gesetzlich krankenversicherte
Patienten arbeiten. Laut Wissenschaftlichem Institut der AOK (WIdO)
sollte sich die Diskussion um ärztliche Arbeitszeiten vorrangig
darauf richten, wie produktiv ärztliche Arbeitszeit für die
Patientenversorgung eingesetzt wird. Bemängelt wird vom WIdO, dass
die Vielfalt an unterschiedlichen Versorgungsformen und die großen
Produktivitätsunterschiede zwischen den Versorgungsformen in den
bisher eingesetzten starren Planungssystemen unbeachtet bleiben.
Deshalb sind nach Ansicht des WIdO mehr wettbewerbliche
Gestaltungsfreiräume nötig.
Dr. Klaus Jacobs, Geschäftsführer des WIdO, nennt praktische
Beispiele für Unterschiede in der Produktivität von Ärzten: „Ein Arzt
auf dem Land kann bei gleichem Arbeitszeitvolumen deutlich mehr
Patienten versorgen, wenn z.B.
– viele zeitintensive Hausbesuche nicht von ihm selbst gemacht
werden müssen, weil eine qualifizierte Fachkraft (z.B. eine
Gemeindeschwester) den Großteil der damit verbundenen
Versorgungsaufgaben erledigt,
– Aufgaben der Praxisorganistation (z.B. Abrechungen,
Dokumentation, Personalwirtschaft) in größeren
Organisationseinheiten (z.B. in Medizinischen
Versorgungszentren) von Managementprofis wahrgenommen werden,
– chronisch kranke Patienten zur Überwachung nicht ständig selbst
in die Praxis kommen müssen, weil ihre Gesundheits- und
Vitaldaten regelmäßig in Telemonitoring-Systemen kontrolliert
werden,
– Patienten, die ambulanter und stationärer Versorgung bedürfen,
im Rahmen von integrierten (sektorübergreifenden)
Versorgungsformen umfassend aus einer Hand betreut werden.“
Solche und weitere Beispiele für neue Versorgungsformen gäbe es
längst in immer größerer Zahl, so Jacobs, doch passten sie
grundsätzlich nicht zu einem starren System zentraler Bedarfsplanung,
das mit fixen Verhältniszahlen Arzt/Patienten operiere und zudem auf
den ambulanten Sektor beschränkt bleibe. Auch eine vermeintlich
„flexibel weiterentwickelte“ Bedarfsplanung mit weiterhin kollektiver
Zulassung von Ärzten und Krankenhäusern und der Verpflichtung der
Krankenkassen, alle laut Plan zugelassenen Leistungserbringer unter
Vertrag nehmen und (zudem weithin einheitlich) vergüten zu müssen,
sei letztlich immer innovations- und produktivitätsfeindlich.
Notwendig seien stattdessen deutlich erweiterte individuelle
Gestaltungsfreiräume von Krankenkassen und Leistungserbringern auf
der Grundlage einer patientenorientierten Versorgungsplanung. Dadurch
könnten nicht nur im ländlichen Raum bestehende oder drohende
Versorgungsengpässe gezielt durch regionsspezifische Lösun-gen
abgebaut bzw. verhindert werden. Zugleich bestünde die Chance zum
Abbau der insbesondere in Ballungszentren nach wie vor herrschenden
Hoch- und Überversorgung bei wettbewerblicher Angebotsvielfalt im
Interesse von Versicherten und Patienten.
Die in der aktuellen Versorgungsdiskussion bislang völlig
unzulänglich beachteten Aspekte von Angebotsvielfalt und ärztlichen
Produktivitätsunterschieden stehen im Mittelpunkt eines Beitrags von
Dr. Klaus Jacobs und Sabine Schulze aus der soeben erschienenen
WIdO-Publikation „Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Neue
Konzepte für Stadt und Land“, mit der das WIdO die aktuelle
Reformdiskussion zur Zukunft der Gesundheitsversorgung bereichern
möchte. Darin enthalten sind weitere Beiträge ausgewiesener Experten:
– zu Steuerungsproblemen der vertragsärztlichen Versorgung (von
Thomas Uhlemann und Kathleen Lehmann, GKV-Spitzenverband),
– zu Stand und Weiterentwicklung der Sicherstellung in der
stationären Versorgung (von Jürgen Malzahn, Christian Wehner und
Claus Fahlenbrach, AOK-Bundesverband),
– zu den Aufgaben und Herausforderungen für die Länder (von
Hartmut Reiners, ehemals langjähriger Ministerialbeamter in den
Gesundheitsministerien von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg),
– zur Sicherstellung in sektorübergreifender Perspektive (von
Karl-Heinz Schönbach, AOK-Bundesverband),
– zur Sicherstellung der Versorgung im Spannungsfeld von
Kollektiv- und Selektivverträgen (von Prof. Stefan Greß,
Hochschule Fulda, Prof. Ingwer Ebsen, Universität Frankfurt am
Main, Klaus Jacobs, WIdO, und Prof. Jürgen Wasem, Universität
Duisburg-Essen).
Angaben zur WIdO-Publikation:
Klaus Jacobs und Sabine Schulze (Hrsg.): Sicherstellung der
Gesundheitsversorgung. Neue Konzepte für Stadt und Land, KomPart:
Berlin 2011, 168 Seiten, ISBN 978-3-940172-19-8
Pressekontakt:
Wissenschaftliches Institut der AOK
Dr. Klaus Jacobs und Diplom-Volkswirtin Sabine Schulze
Tel.: 030/34646-2393
Fax: 030/34646-2144
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