Theodor Storm hat es schwer. Das dichterische
Blattgold eines „Von drauß– vom Walde komm– ich her“ tritt auch in
der Weihnachtszeit gegen die Web-Sprache des Hier und Jetzt an, gegen
die Kitsch-Weihnacht, gegen den politischen Ticker, den ständigen
Klingelton, die tägliche Berufshetze, den Wettkampf um Karriere und
Geld. Wer will da etwas wissen vom Walde, in dem es „weihnachtet
sehr“, von Lichtlein auf Tannenspitzen, von den großen Augen des
Christkindes, von Äpfel, Nuss und Mandelkern, die „essen fromme
Kinder gern“? Aber Gemach: Wirkt die leicht patinierte Lyrik Storms
nicht letztlich doch wie ein Aufheller im dunklen Dezember? Berühren
uns die Verse nicht immer wieder mit ihren wärmenden Fingern? Und
führen sie uns nicht in ein kerzenschimmerndes Zauberland von
Unwiderstehlichkeit? In Storms Weihnacht begegnet uns mehr als das
herrliche Bordüren-Gewand der eigenen Kindheit. Sie lässt uns ahnen:
Die Menschen früherer Zeiten, die teilweise in bitterer Armut lebten,
feierten das Fest in größerem Glück, in stillerer Freude, ja in einem
Lichterglanz innerer Welten. Mit unsichtbaren Kronen der
Bescheidenheit und Frömmigkeit. Theodor Storm? Ist das eine App?,
werden manche fragen, die nur die Sekunden zählen, bis sich endlich
vor dem Weihnachtsbaum das neue Power-Chip-Smartphone mit schnellerem
Datenfluss oder der im Edelstahl-Design blitzende
46-Zoll-Flachbildschirm in Szene setzen kann. Weihnachten ist das
Fest der Freude, und selbstverständlich gehört dazu auch der Spaß am
flirrenden Technik-Kosmos. Doch wenn Weihnachtstraditionen nur noch
Störfaktoren in einem Elektronik-Festival sind – so lästig wie ein
Knecht Ruprecht, der mitten im Sommer in ein Cyber-Forum platzt –
dann hätte sich unsere Gesellschaft in ein Weihnachtsverständnis
verloren, das nur noch einem Banalitätsstau aus Güterwechsel und
Tauschszenarien gleichkommt. „Weihnachten ist ein Einspruch gegen die
falsche Auffassung, es habe bloß das lieblose Gesetz der
gegenseitigen Ansprüche Geltung, das im Tiefsten hartherzig ist“,
schreibt der Erzbischof und Bischofs-Konferenz-Vorsitzende Robert
Zollitsch in seinem heutigen BNN-Titelbeitrag. Wenn Weihnachten das
Fest der Liebe ist, so ist es auch das Fest der großen
Generationenbrücke, die für unsere Zeit immer wichtiger wird. „Alt–
und Junge sollen nun von der Jagd des Lebens ruhn“. Nie waren Storms
Gedanken aktueller. Das Fest ist als Familienoase unersetzlich,
ebenso als wichtiger Ankerpunkt des Kraftschöpfens und der religiösen
Besinnung. Der 2008 verstorbene amerikanische Komiker, Tabubrecher
und Querdenker George Carlin ist keinesfalls als Kirchenfreund
bekannt, aber sein – hier frei übersetztes – Gedankengut passt in die
Weihnachtszeit: Wir streben nach immer größerem Wohlstand, und
verarmen immer mehr. Wir führen energische Sozialdebatten, und haben
immer kleinere Familien. Die Technik nimmt uns viel ab, und wir haben
trotzdem keine Zeit. Wir reisen in die Ferne, finden aber nicht mehr
die Türe des Nachbarn. Wir verbringen viel Zeit mit dem Traum von
Liebe und Partnerschaft, leben aber in einer Welt der raschen
Beziehungsbrüche und Scheidungen. Und so führt uns Weihnachten in die
Frage: Als welche Menschen haben wir uns im zurückliegenden Jahr
erwiesen? Haben wir unseren Mitmenschen die Hand gereicht? Waren wir
ehrlich? Oder haben wir egoistische Kälte walten lassen und damit die
Zentrifugalkräfte in unserer Gesellschaft forciert? Nächstenliebe,
ohne die Christsein nicht denkbar ist, beginnt – als
Ganzjahresprogramm -an Weihnachten. Wenn wir sie auf den kleineren
und doch nicht kleinen Begriff des Anstands zurückführen, haben wir
schon viel erreicht: Mehr Anstand in -Politik und Wirtschaft, im
Beruf und in der Familie. Mehr Anstand zwischen Reich und Arm.
„Sind–s gute Kind, sind–s böse Kind“?, heißt es bei Theodor Storm am
Schluss. Stellen wir uns selbst die Frage, zu welchen Kindern wir
gehören.
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