Badische Neueste Nachrichten: unerledigte Hausaufgaben

Für Angela Merkel war es die perfekte Lösung.
Ein Mann in der Spätphase seines politischen Schaffens, erfahren,
durchsetzungsfähig und mit einer natürlichen Autorität gesegnet, die
aus Kollegen Bittsteller macht und aus einem Haushaltsentwurf eine
Bibel der Sparsamkeit. Ihr neuer Finanzminister, das wusste die
Kanzlerin, würde keine Skrupel haben, sich unbeliebt zu machen und
der FDP ihre Flausen schon austreiben. Eine große Steuerreform mitten
in der Schuldenkrise? Doch nicht mit Wolfgang Schäuble! Drei Jahre
später geht es Deutschland so gut wie kaum einem Land sonst in
Europa, was nicht zuletzt dem besonnenen Krisenmanagement der
Kanzlerin und des Finanzministers zu verdanken ist. Auf der
Soll-Seite der Koalition aber stehen neun Monate vor der Wahl noch
immer drei unerledigte Vorhaben, die entweder direkt in Schäubles
Verantwortung fallen oder aktiv von ihm gebremst werden: der Abbau
der kalten Progression, bei der die Steuerlast eines
Durchschnittsverdieners stärker steigt als sein Lohn, die Reform der
ermäßigten Sätze bei der Mehrwertsteuer und die Benachteiligung der
Mütter bei der Rente, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Hier wie
dort geht es um Milliarden – und um die Frage, ob die Koalition Wort
hält. Im beginnenden Wahlkampf soll es nun natürlich so aussehen, als
verhinderten Sozialdemokraten und Grüne im Bundesrat aus
parteipolitischem Kalkül nahezu jedes Steuergesetz. Das aber ist,
wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Das Problem mit der kalten
Progression hätten Union und FDP auch schon lösen können, als die
Mehrheitsverhältnisse in der Länderkammer noch günstiger waren. Und
bei der Mehrwertsteuer hat die Koalition noch nicht einmal mit der
Arbeit begonnen. Dass ausgerechnet jetzt eine Giftliste aus dem
Finanzministerium die Runde macht, in der sich die Grausamkeiten von
Einschnitten bei der Witwenrente über das Ende der ermäßigten
Mehrwertsteuer bis zur Anhebung des Rentenalters über die
vereinbarten 67 Jahre hinaus nur so aneinanderreihen, ist vermutlich
kein Zufall. Ob sich hier nur ein paar übereifrige Beamte ihre
eigenen Gedanken gemacht oder tatsächlich im Auftrag des Ministers
Vorschläge gesammelt haben, spielt dabei keine Rolle: Schäuble, so
scheint es, hat das Sparen längst zum Selbstzweck erhoben. Das
Nachbessern der Mütterrenten, zum Beispiel, ist ihm schlicht und
einfach zu teuer. Die Frage, wie gerecht eine Regelung ist, bei der
die Höhe der Rente vom Geburtsjahr eines Kindes abhängt, stellt er
sich nicht. Dabei könnte die Koalition mit etwas Fantasie auch beides
haben: Einen ausgeglichenen Etat – und den Spielraum, den eine
Regierung braucht, die ein Land nicht nur verwalten, sondern
gestalten will. Die fünf oder sechs Milliarden Euro etwa, die der
Einstieg in eine Reform der Mütterrenten kostet, hätte ein mutiger
Finanzminister rasch zusammen. Er müsste nur den Widerstand der
Lobbyisten aushalten und die vielen Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer
wieder auf das ursprüngliche Maß reduzieren. Das allerdings wagt
bislang selbst ein so erfahrener und durchsetzungsfähiger Minister
wie Wolfgang Schäuble nicht.

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Klaus Gaßner
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