Badische Neueste Nachrichten: Zum falschen Zeitpunkt Kommentar Von Rudolf Gruber

Im Grunde ist der Völkermordprozess, bei dem
sich Kroatien und Serbien gegenseitig des Genozids beschuldigen, nur
noch Formsache, auch wenn dies zynisch klingen mag. Das Verfahren,
das gestern vor dem Internationalen Gerichtshof (ICJ) in Den Haag
begann, kommt zu spät und zur Unzeit: Beide Länder haben zuletzt ihre
Beziehungen stark normalisiert, man begegnet sich auf Augenhöhe, man
will die offenen Fragen pragmatisch lösen. Da kann ein Prozess über
die Schuldfrage, wer vor über 20 Jahren den Krieg um die Nachfolge
Jugoslawiens begonnen hat, neues Hassklima erzeugen und die frischen
Beziehungen einer ernsthaften Belastungsprobe aussetzen. Dumm nur,
dass beide Regierungen Jahre mit taktischem Geplänkel vertan haben,
bis die Frist, das Verfahren zurückzuziehen, verstrichen war.
Besonders Serbien war an einem Rückzug gelegen, denn es hat als
einstiger Kriegstreiber die weitaus schlechteren Karten. Gleichwohl
wird es am Ende des Verfahrens keinen Sieger geben: Anders als
einzelnen Personen kann Staaten die gezielte politische Absicht zum
Völkermord juristisch kaum nachgewiesen werden, weshalb es Anfang
April wohl zu keinem eindeutigen Urteil des Gerichtshofs kommen wird.
Gleichwohl dürfte das Verfahren für radikal nationalistische Kräfte
ein willkommener Anlass sein, aufgestaute Wut und Enttäuschung
loszuwerden. Ein Gericht wäre ohnehin kein guter Ort für
Vergangenheitsbewältigung, es kann Versöhnung nicht anordnen. Dazu
braucht es viel Aufklärung und Bereitschaft dazu, und vor allem eine
gemeinsame geschichtliche Aufarbeitung ohne Scheuklappen. Leider
haben bislang weder Kroatien noch Serbien ernsthaft damit begonnen.

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