BERLINER MORGENPOST: Arbeitsmarkt und Mindestlohn Leitartikel von Jochim Stoltenberg zu den neuesten Nürnberger Zahlen und den Koalitionsverhandlungen

Ein Glück, dass sich Union und SPD in ihren
Koalitionsverhandlungen noch über den Mindestlohn streiten. Dabei
geht es seit dem Einlenken von CDU und CSU nicht mehr um das „Ob“,
sondern um das „Wie“. Ein landesweiter branchenunabhängiger
Stundenlohn von mindestens 8,50 Euro, wie ihn die SPD zu einer
Bedingung für ein schwarz-rotes Bündnis erklärt hat oder eine
flexiblere, branchen- und regionalspezifische Differenzierung, dazu
zeitlich gestreckt, wie die Union fordert? Die Arbeitsmarktzahlen für
Oktober sollten all denen eine Mahnung sein, die all zu schnell all
zu viel durchsetzen wollen.

Die jüngste monatliche Nürnberger Botschaft ist nicht schlecht.
Das Zahlenwerk hat sich im Laufe des Jahres nicht wesentlich
verändert. Bei einer Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent gilt der
Arbeitsmarkt als stabil, allerdings auch ohne Dynamik nach oben. Die
wäre nötig, wenn die Belastung durch einen flächendeckenden
Mindestlohn nicht wieder gefährden soll, was Deutschland im Vergleich
zu vielen anderen Staaten in den vergangenen Jahren besser gelungen
ist: Abbau der Arbeitslosigkeit und Aufbau eines sehr hohen
Beschäftigungsniveaus. Diese Erfolge werden durch einen hohen
„Mindestlohn für alle überall“ bedroht. Ostdeutschland gilt als
besonders gefährdet.

Dabei steht die Union mit ihrer Warnung vor den Risiken des von
den Sozialdemokraten zum Glaubensbekenntnis erkorenen Mindestlohns
keineswegs allein. Zu zahlende 8,50 Euro wären, so der Berliner
Arbeitsmarktforscher Jochen Kluve von der Humboldt-Universität, ein
Spitzenwert unter den Industriestaaten dieser Welt. Auch wenn
Wissenschaftler noch darüber streiten, ob 8,50 Euro mit 62 Prozent
des mittleren Lohns aller Arbeitnehmer in Deutschland gleichzusetzen
wäre oder nur mit 57 Prozent – einig sind sich die meisten, dass ein
solcher Mindestlohn Arbeitsplätze kosten und damit die
Arbeitslosenstatistik knicken würde. Weitgehend gleich auch die
Einschätzung, dass es weit mehr bislang schlecht Bezahlte im Osten
treffen würde als im Westen. Das räumen unter der Hand auch
ostdeutsche Gewerkschafter ein, schweigen öffentlich aber
solidarisch.

Noch ringen die potenziellen Koalitionspartner um den Kompromiss.
Dabei muss es um mehr gehen als um Gesichtswahrung und Besänftigung
der Basis einer Partei. Die Sache selbst und deren Folgen für die
Betroffenen ist wichtiger. Noch ist Zeit, Fehlentscheidungen zu
verhindern.

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