BERLINER MORGENPOST: Ausdiskutieren, nicht wegschweigen Hajo Schumacherüber die Entscheidung der Bundesbank, Thilo Sarrazin abzusetzen

Die Bundesbank hat entschieden, Sarrazin soll
gehen. Jetzt wird auch die SPD fieberhaft nach einer Chance suchen,
sich des unangenehmen Genossen zu entledigen. Keine Frage: Der
Zahlenmann hat mit seinem Thesengewitter und nachfolgenden
Einlassungen für Empörung gesorgt, oft zu Recht. Dennoch: Nicht alle
Gedanken Sarrazins sind wirr und nicht jeder ein Radikaler, der ihm
zustimmt. Vielmehr beweist das öffentliche Interesse, die
Leserbriefe, Tumulte in Buchläden und die Nachfrage nach Auftritten,
dass der frühere Berliner Finanzsenator ein Thema anspricht, das die
Leute bewegt, so oder so. Das Grundgesetz weist den Parteien eine
herausragende Rolle im demokratischen Miteinander zu. „Die Parteien
wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, bestimmt
Artikel 21. Der politische Wille braucht politische Meinung, die
wiederum auf politischer Information gründet. Idealerweise
organisieren vor allem die beiden deutschen Volksparteien diesen
gesellschaftlichen Dialog, listen Argumente, markieren kontroverse
Positionen, suchen nach Lösungen, auch wenn die Themen, ihre
Protagonisten und deren Ton bisweilen schmerzen. Die Bundesbank kann
einen solchen Protagonisten zu Recht verbannen: Sie ist nicht Partei.
Die SPD würde einen Fehler machen, wenn sie das Gesprächsbedürfnis
mit einem Rausschmiss gleichsam abwürgte. Nähme eine lebendige
Diskussionspartei ihre Verantwortung wahr, dann würden die SPD-Oberen
selbstbewusst eine deutschlandweite Diskussionsreihe mit dem Querkopf
beginnen, von Genossen, für Genossen und alle anderen Interessierten.
Warum setzen sich nicht Gabriel, Nahles, Stegner, Wowereit,
Steinmeier mit Sarrazin öffentlich auseinander, in einem fairen
Wettbewerb mit Argumenten, Fakten, Zahlen? Es gibt reichlich
Beispiele für gelungene Integration, genügend Studien, die Sarrazin
relativieren oder entkräften. Gerade Sozialdemokraten, die noch immer
mit Schröders Reformen hadern, können trefflich darüber streiten, ob
man den Wert von Menschen auf ihre volkswirtschaftliche
Leistungsbilanz reduzieren darf. Ein hartes aber faires Gespräch kann
jenes unkonkrete Empfinden versachlichen, das viele Bürger umtreibt.
Aber offenbar trauen gerade die SPD-Oberen ihren Argumenten nicht,
sondern überlassen die Debatte dem hektischen TV-Talk. Doch was bei
Beckmann, Plasberg und anderswo abgefeiert wird, gehört auf die Bühne
der Ortsvereine, etwas ruhiger, dafür gern ein wenig tiefschürfender.
Demokratische Diskussion, dass heißt nicht, über-, sondern
miteinander zu reden. Doch die Schmerzangst der SPD ist offenbar
größer als die Einsicht, dass dieser Sarrazin ausdiskutiert werden
muss. Wegschweigen lässt sich das Integrationsthema nicht. Wenn jedem
unliebsamen Geist das Parteibuch entzogen wird, dann verwandelt sich
eine bunte Volkspartei in eine stromlinienförmige Sekte, die kaum
mehr Verbindung zu den Menschen hält, die sie eines Tages wählen
sollen. Dass bei manchen Bürgern der Verdacht wächst, da solle einer
mundtot gemacht werden, hilft nur denen, die mit
Verschwörungstheorien punkten wollen.

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