Unsere Arbeitswelt wird immer bunter und
vielfältiger, man könnte auch sagen: immer unübersichtlicher. Das
spiegelt sich auch in den Tarifverträgen wider. Schon längst nicht
mehr können Branchen, Unternehmen und Arbeitnehmer über einen Kamm
geschoren werden. Diese Einsicht ist nun auch beim
Bundesarbeitsgericht in Erfurt angekommen. Den alten Grundsatz „ein
Betrieb, ein Tarifvertrag“ haben sie ad acta gelegt. Durchlöchert war
dieses Prinzip schon längst. Mit dem Motto „einer für alle“ wollten
sich Klinikärzte, Lokomotivführer, Piloten und Fluglotsen nicht mehr
abfinden – und verhandelten streitlustig auf eigene Faust. Sehr zum
Frust der konkurrierenden Großgewerkschaften – und auch der
Arbeitgeber. Die Anhänger der Tarifeinheit malen nun den Untergang
des Tarifsystems an die Wand, ja den Untergang der sozialen
Marktwirtschaft und des sozialen Friedens überhaupt. Sie warnen vor
„englischen Verhältnissen“, vor Splittergewerkschaften, die sich mit
Dauerstreiks gegenseitig befehden und ganze Unternehmen lahmlegen
könnten. Diese Horrorszenarien sind übertrieben. Das Phänomen der
Spartengewerkschaften konzentriert sich bislang in
Ex-Monopol-Unternehmen des öffentlichen Sektors, bei der Bahn, im
Flugverkehr und im Gesundheitswesen. Den Unternehmensleitungen – und
auch den Großgewerkschaften – dieser ehemaligen Staatsmonopolisten
gelang es nicht, ihre hoch qualifizierten „Funktionseliten“ nach der
Privatisierung adäquat zu bezahlen und an sich zu binden. In der
Industrie, die im harten internationalen Wettbewerb steht, haben sich
dagegen keine Spartengewerkschaften gebildet. Die großen
Industriegewerkschaften tragen der neuen Vielfalt in den Unternehmen
und der zunehmenden Differenzierung auch zwischen den Betrieben
längst mit Öffnungsklauseln Rechnung, die Abweichungen vom starren
Tarifvertrag erlauben. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt das
Hohelied auf die „Tarifeinheit“, das jetzt so lautstark gesungen
wird, doch reichlich überholt. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaftsbund
nun in seltener Eintracht nach dem Gesetzgeber rufen, um die
Tarifeinheit zu retten, verfolgen sie in erster Linie eigene
Interessen. Die Arbeitgeber fürchten die Kampfes- und Streiklust der
Spartengewerkschaften. Bahn, Lufthansa und kommunale Kliniken können
davon ein Lied singen. Und die DGB-Gewerkschaften würden sich gern
der lästigen Konkurrenz der Kleinen entledigen. Doch der Trend zur
Vielfalt in einer differenzierten Arbeitswelt lässt sich nicht
aufhalten. Die Politik sollte sich davor hüten, den Forderungen
nachzugeben und die Richter zu korrigieren. Frischer Wind und mehr
Wettbewerb tut auch dem deutschen Tarifsystem gut, in dem sich
Arbeitgeber und große Gewerkschaften viel zu lange bequem
eingerichtet haben.
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