BERLINER MORGENPOST: Die Gentechnik braucht lebensnahe Regeln – Leitartikel

Kann man Eltern, die bereits ein schwer behindertes
Kind haben, die Geburt eines weiteren Kindes verbieten? Natürlich
nicht. Kann man diesen Eltern verwehren, das Kind während der
Schwangerschaft auf Schädigungen hin untersuchen zu lassen? Nein,
sagt seit Jahrzehnten der Gesetzgeber, der die vorgeburtliche
Diagnostik durch Fruchtwasseruntersuchungen zulässt und damit unter
Umständen eine Abtreibung hinnimmt. Warum aber dürfen diese Eltern
nicht den weniger problematischen Weg der Präimplantationsdiagnostik
(PID) gehen, bei der erst einmal eine künstliche Befruchtung im Labor
durchgeführt und der Embryo vor der Einpflanzung auf gravierende
Defekte hin untersucht wird? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am
Dienstag keine sinnvollen Gründe und rechtlichen Hindernisse gegen
eine solche PID gefunden und den Berliner Arzt Matthias Bloechle, der
sie durchgeführt hatte, freigesprochen. Damit hat der BGH Verständnis
für Eltern in schrecklichen Zwangslagen gezeigt. Nur um solche Eltern
geht es dem BGH, um die Vermeidung von gravierenden und oft tödlichen
Gendefekten, nicht um die Auswahl von Jungen oder Mädchen, nicht um
die Erlaubnis zur genetischen Perfektionierung der Kinder. Insofern
freilich stellt das Gericht die deutsche Gesellschaft und Politik nun
vor eine sehr schwere Aufgabe: nämlich zu klären, wie man sich zur
immer präziser werdenden Diagnostik vor der Geburt verhalten will. Es
ist genau abzuwägen, bei welchen Vorschädigungen der Eltern man eine
PID akzeptieren kann, bei welcher nicht. Auch sind Regeln
festzulegen, wer so eine PID durchführen darf und wie man das
kontrollieren will. Zugleich muss die ausufernde Diagnostik während
der Schwangerschaft begrenzt werden. Denn was bei der PID bisher
eventuell zu streng ausgeschlossen wurde, könnte während der
Schwangerschaft mittlerweile zu locker gehandhabt werden, sollen sich
die Schwangeren doch ständig neuen Untersuchungen unterziehen und
damit faktisch immerzu die Frage stellen, ob sie das Kind behalten
wollen. Daher müssen nun klare Regeln für den gesamten
vorgeburtlichen Raum her, Deutschland braucht ein
Fortpflanzungsmedizingesetz. Das Embryonenschutzgesetz, hinter dessen
vermeintlicher Strenge man sich zu lange versteckt hat, ist nicht
mehr viel wert. Im Geiste dieses Embryonenschutzgesetzes von 1990
hatte man sich darauf versteift, angeblich drohende Manipulationen
oder Menschenzüchtungen durch finstere Gentechniker zu verhindern.
Vernachlässigt wurde bei solchen Fantasien das viel konkretere
Problem, dass Menschen mithilfe der Gentechnik nun erfahren können,
ob ihre Kinder die Anlage zu schweren Krankheiten in sich tragen.
Solche Krankheiten wollen die Menschen verhindern, dafür brauchen sie
klare und nachvollziehbare Regeln. Die Debatte über die Gentechnik
muss sich den realen Sorgen und Gefährdungen der Menschen stellen.

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