Nehmen wir–s von der positiven Seite: Die 
Entscheidung, der Europäischen Union den Friedensnobelpreis zu 
verleihen, regt zumindest zum Nachdenken, ja, zur Selbstreflexion der
Bürger Europas an. Dieser Preis geht in der Regel an einzelne 
Personen – wobei auffällt, dass die Preise oft zu spät kommen und den
Verleihern in aller Regel der Mut fehlt, über den Schatten des mehr 
oder minder linken Gutmenschentums zu springen. Noch keiner, der die 
Werte des Westens scharf gegen den Sirenengesang des 
Kulturrelativismus verteidigt, ist bisher in den Genuss des Preises 
gekommen. Gewiss kein Zufall. Auch Organisationen sind schon mit dem 
Preis geehrt worden, etwa Ärzte ohne Grenzen. Aber nun ein 
gewaltiges, kontinentumgreifendes Gebilde, das zugleich weniger und 
viel mehr ist als ein Staat. Man muss schon sagen, das ist unerhört. 
Wer aber bekommt eigentlich den Preis? Herr Barroso? Frau Merkel 
(verspätet an Helmut Kohls statt)? Das Europäische Parlament und der 
schneidige Herr Schulz? Die Kommission, „Brüssel“, posthum die 
Gründungsväter von Altiero Spinelli bis Jean Monnet? Europas Staaten 
und Völker, am Ende gar wir alle? Ja, das wird es sein: Wir sind 
Nobelpreis! Eine schöne, erhebende Entscheidung. Aber auch eine, die 
im Ungefähren, im Nebel der Geschichte, im Unentschiedenen verbleibt.
Die EU gäbe es ohne seine Bürger so wenig wie ohne seine Macher. Was 
hat der Krieg, was hat das Volk, was haben Politiker, was haben die 
neuen europäischen Institutionen zu dem Friedenswerk beigetragen? 
Dazu schweigt die Entscheidung. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, 
verfehlt die Zukunft, ja sicher. Doch das Nobelpreiskomitee bleibt 
ganz im Gestern. Es begründet die Entscheidung mit der Überwindung 
der Traditionen mörderischer europäischer Bruderkriege, mit der 
Integration von drei ehemaligen Diktaturen (Griechenland, Spanien, 
Portugal), mit dem Ende der Ost-West-Spaltung und mit der mählichen 
Rückkehr des Balkans in eine rechtsgeleitete Staatenwelt. Abgesehen 
davon, dass hier die Wirtschaft, die vielleicht der größte 
Friedensmotor gewesen war, gar nicht vorkommt: In dieser Entscheidung
spiegelt sich gar nicht die Tatsache, dass Europa in einer selbst 
verschuldeten Krise steckt und seine Bürger der EU nicht mehr das Maß
an Zuneigung entgegenbringen, das sie einst dem Europa-Gedanken 
entgegengebracht hatten. Der Preis soll wohl eine Ermunterung sein, 
nehmen wir es denn auch so. Eine nette Geste, wie eine Rose, die auf 
dem Samstagsmarkt verteilt wird. Europa läuft gut, braucht aber auch 
eine Neubegründung: durch die Politik, die Institutionen, die Bürger,
die Kultur. Das Eiapopeia aus Norwegen nehmen wir wie einen süßen 
Keks zur Wegzehrung mit. Um den Rest müssen wir uns schon selbst 
kümmern. Nach dem Nobelpreis ist vor den Mühen der Ebene und der 
Gipfel.
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