Immer wenn es ernst wird, reagiert die EU wie ein
aufgeschreckter Hühnerhaufen. Weniger tierisch ausgedrückt soll dann
plötzlich nicht mehr gelten, was in besseren Zeiten beschlossen
wurde. Wie bei der Verschuldungskrise, die nach dem
Maastricht-Vertrag von den betroffenen Ländern allein ohne
Euro-Transfers zu lösen gewesen wäre. Oder wie jetzt beim Umgang mit
den Flüchtlingen aus Nordafrika. Die schwere Verstimmung, die Italien
mit seiner Reaktion auf die auf Lampedusa anlandenden Boatpeople
ausgelöst hat, zeugt einmal mehr davon, dass Solidarität unter den
EU-Partnern zwar als Gebot auf dem Papier steht, der Bewährung in der
Praxis aber kaum standhält. Das gilt für alle Beteiligten. Die
Innenminister haben sich in Luxemburg denn auch vorerst nur auf den
einfachsten und zugleich bequemsten Nenner verständigt: Noch mehr
Grenzschützer von der EU-Agentur Frontex zur Abschreckung und
Rückführung der Flüchtlingsboote, damit die gar nicht erst
EU-Territorium erreichen. Welche Hilflosigkeit, ja welch ein Zynismus
gegenüber einer Entwicklung in Nordafrika, die noch vor Wochen in
Erwartung eines demokratischen Wandels auch von den Europäern
bejubelt wurde. Und die jetzt, da in Tunesien, Ägypten und vor allem
in Libyen geweckte Hoffnungen welken und immer mehr Menschen aus
diesen Ländern ihre Heimat fluchartig verlassen, Schutzmauern so hoch
wie irgend möglich vor ihren Inseln, Küsten und inländischen Grenzen
errichten. Nach der EU-Rechtslage ist Italien dem Schengener Abkommen
entsprechend verpflichtet, den Flüchtlingsstrom allein zu bewältigen,
solange dieser kein Massenexodus ist. Davon kann derzeit kaum die
Rede sein. Folglich ist der Versuch Roms vertragswidrig, per
befristete Aufenthaltsgenehmigungen Flüchtlingen die Grenzen über
Italien hinaus zu öffnen. Allerdings ist auch der Protest der
EU-Partner nur ein bequemes Ausweichen vor eigener Mitverantwortung.
Wann endlich lässt Europa seinem verbalen Enthusiasmus für die schon
erfolgreichen Freiheitsbewegungen in Tunesien und Ägypten konkrete
Wirtschafts- und Finanzhilfen folgen? Wo sind die entschlossenen
Initiativen beispielsweise des deutschen Außenministers Guido
Westerwelle? Der konnte gar nicht schnell genug in Tunis und Kairo
sein, um auch medienwirksam Sympathie und Unterstützung für die
Revolutionäre zu bekunden. Es blieb bei Gesten. Jetzt, da sich
Enttäuschung vor allem in der jungen Generation an Europas südlicher
Gegenküste breitmacht, weil schnelle Besserung der Lebensverhältnisse
ausbleibt, sind kurzfristige Hilfs- und mittelfristige
Entwicklungsprogramme überfällig. Nur wenn die Jungen in Nordafrika
eine Perspektive für sich entdecken, werden sie bleiben. Das
Kernproblem hinter dem Flüchtlingsproblem, das keines allein der
Italiener ist, wird nur entschärft und irgendwann gelöst, wenn der
Norden Afrikas zu einer wirtschaftlichen Wachstumsregion wird. Und
damit zum wirksamen Schutzwall für die Europäer vor illegaler
Einwanderung. Kurz schien es zu Beginn des Jahres, als wollte
Westerwelle zum Wortführer und Wegbereiter einer solchen Entwicklung
werden. Es hätte seine Agenda werden können. Vielleicht besinnt er
sich noch einmal.
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