BERLINER MORGENPOST: Für Serbien liegt die EU noch in weiter Ferne – Leitartikel

Er kannte keine Menschlichkeit. Für sich selbst
aber nimmt er sie wie selbstverständlich in Anspruch. Sein letzter
Wunsch vor der Auslieferung an das Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag wurde sogar erfüllt. Ratko Mladic, ehemaliger serbischer General
und Militärchef der bosnisch-serbischen Armee im balkanischen
Bürgerkrieg (1992 bis 1995), als solcher der berüchtigte „Schlächter
vom Balkan“, durfte vor seiner Überstellung an das UN-Gericht noch
einmal das Grab seiner Tochter Ana aufsuchen. Die hatte sich 1994 im
Alter von 23 Jahren mit der Dienstpistole des Vaters erschossen.
Offensichtlich aus Scham über dessen Brutalität gegenüber seinen
Feinden, den bosnischen Muslimen. Als Ratko Mladic gestern zum ersten
Mal vor seine Richter trat, da äußerte er wieder einen letzten
Wunsch: Er wolle noch seine Freiheit erleben. Der allerdings wird
kaum in Erfüllung gehen. Zu lang und zu schwer ist die Anklage gegen
ihn: Die Ermordung von etwa 8000 muslimischen Männern und
Jugendlichen nach der Eroberung der UN-Schutzzone Srebrenica durch
seine Truppe, rund 12.000 Tote während der Belagerung und Beschießung
der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, ethnische Säuberungen und Gräuel
in Internierungslagern. Jetzt zu behaupten, er habe keine Menschen
umgebracht, außerdem sei er heute ein schwer kranker Mann, also nicht
gerichtsfähig, kommt einer weiteren Verhöhnung der Opfer und des
Gerichts gleich. 16 Jahre konnte sich Mladic dank freundlicher
Unterstützung bis in höchste Regierungskreise hinein in Serbien
verstecken. Jetzt endlich steht er da, wo alle Kriegsverbrecher
hingehören. Das ist natürlich kein Zufall. Die Regierung in Belgrad
hat Mladic endlich überstellt, um für Serbien die Chance eines
EU-Beitritts zu wahren. Die Sympathie des Landes und seiner Menschen
für Europa hält sich eher in engen Grenzen. Gefragt sind vielmehr
finanzielle und wirtschaftliche Hilfen aus Brüssel. Nur mit ihnen
kann sich Serbien aus seiner politischen und wirtschaftlichen
Isolierung befreien. Alle anderen Balkanstaaten des ehemaligen
Jugoslawien sind inzwischen EU-Mitglied, verhandeln über einen
Beitritt oder haben einen offiziellen Kandidaten-Status. Fast
verräterisch denn auch die vom serbischen Regierungschef Boris Tadic
gestern in einem „FAZ“-Interview erneuerte Forderung, mit der
Auslieferung Mladic– habe sein Land nun geradezu Anspruch darauf, in
die EU aufgenommen zu werden. Welche Selbstüberschätzung eines
Landes, das so schwer vom Nationalismus lassen kann und das 16 Jahre
lang einen der übelsten europäischen Kriegsverbrecher seit 1945 mehr
oder weniger gedeckt hat. Bevor Serbien Beitrittskandidat wird – und
erste Hilfsgelder der EU fließen – müssen in Belgrad noch viele hohe
Hürden abgebaut werden: Das Rechtssystem verdient den Namen nicht,
die Verwaltung funktioniert mehr schlecht als recht, Korruption
blüht, der Umgang mit der einstigen Provinz Kosovo muss gelöst
werden. Es darf nicht auch noch mit Belgrad faule Kompromisse geben.
Europa hat jetzt schon zu viele „Fußkranke“, die das Überleben der EU
gefährden.

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