BERLINER MORGENPOST: Jetzt mehr Integration für Europa fordern Jochim Stoltenberg über die neu entbrannte Diskussion in der CDU über das künftige Europa

Besonnene Köpfe in der CDU beginnen endlich, den
Populisten auch in den eigenen Reihen Paroli zu bieten. Wenn etwa der
Abgeordnete Wolfgang Bosbach, auch er ein überzeugter Europäer, seine
Partei davor warnt, sich auf eine EU als Schuldenunion einzulassen,
kommt das zwar beim Volk gut an. Zur Bewältigung der Krise trägt es
dagegen wenig bei. Deshalb wird es höchste Zeit, dass in der CDU die
Debatte aufgenommen wird, die ihre Vorsitzende und Kanzlerin Angela
Merkel vor ein paar Tagen in Paris mit Frankreichs Staatspräsident
Nicolas Sarkozy angestoßen hat: Mehr Zusammenarbeit, mehr
Integration, Verzicht auf weitere nationale Souveränitätsrechte, um
Europa widerstandsfähiger und zukunftssicherer zu machen. Das mag
angesichts der Schuldenkrise paradox klingen. Aber es ist überfällig.
Die Schuldenkrise hat ja gerade ihre Wurzel darin, dass nationale
Regierungen der Gemeinschaft munter Geld ausgegeben haben, das sie
nicht hatten. Europa – das war bislang eine Wachstumsgemeinschaft. Es
ist aber auch eine Gemeinschaft, in der fast alle Partner über ihre
Verhältnisse gelebt haben. Unterm Strich hat diese Politik auf Pump
oder gar auf Kosten der anderen zu der Schuldenkrise geführt, die
Europa jetzt im Mark erschüttert. Dabei geht es um mehr als den Euro.
Es geht um die Zukunftsfähigkeit, Sinnhaftigkeit, Akzeptanz und damit
letztlich die Überlebensfähigkeit der vereinten europäischen Familie.
Doch wie sagt man dies dem zweifelnden Volke, auch der eigenen
Partei? In ihr ist die Diskussion besonders kontrovers. Sollten etwa
die tadelnden Einlassungen des Altkanzlers Helmut Kohl an der
gegenwärtig verzagten Europapolitik CDU-Granden von aktuellem Rang
endlich ermutigt haben, öffentlich für einen neuen europäischen
Integrationsschub zu werben? Schwerlich ein Zufall, wenn mit
Finanzminister Wolfgang Schäuble, Umweltminister Norbert Röttgen und
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gleich drei Schwergewichte
hinter der Kanzlerin mehr Europa, also mehr Zusammenarbeit fordern.
Doch Forderungen allein sind zu wenig. Den an Europa zweifelnden
Bürger müssen endlich die Vorteile eines integrierten Europa erklärt
werden; insbesondere die wirtschaftlichen für jeden Einzelnen. Das
schließt Diskussionen über partielle Maßnahmen nicht aus. Für Europa
zu werben und Verständnis für gegenseitige Solidarität aller in
dieser bislang schwersten Krise Europas zu suchen, darf allerdings
nicht allein der Politik überlassen bleiben. Wo bleibt das laute
Plädoyer der Wirtschaft, die ja mit der EU besonders gute Geschäfte
macht? Wo der Flankenschutz der Gewerkschaften? Angesichts der
wachsenden globalen wirtschaftlichen Bedeutung bislang eher
randständiger Regionen wie Asien mit China und Indien oder Südamerika
mit Brasilien und dazu der demografischen Entwicklung darf sich
Europa nicht länger im Klein-Klein verlieren. Anderenfalls wird es
früher oder später wirtschaftlich, politisch und intellektuell selbst
randständig. Europa hat nur eine Chance, wenn es neue Kraft findet,
um den Vereinigungsprozess weiter voranzutreiben.

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