Kurzform: Die EU wäre gut beraten, die Türkei nicht
abzuschreiben; es gibt auch eine Zeit nach Erdogan. Was nottut, ist
strategische Geduld. Die Europäer und die Nato müssen mit dem Türken
im Gespräch bleiben. Auch, was dessen Kuschelkurs mit „neuen Freunden
und Verbündeten“ im Osten betrifft – vor allem mit Russlands
Präsidenten Wladimir Putin. Wenn Erdogan am 28. und 29. September
nach Deutschland kommt, geht es um die Kunst des Dialogs hinter den
Kulissen. Öffentliche Schelte bringt billigen Beifall auf der
innenpolitischen Galerie, führt aber zu nichts. In der Ära der
Autokraten, wo zwischen Washington und Peking verbale Muskelspiele
hoch im Kurs stehen, ist der direkte Austausch wichtiger denn je. Wer
nur noch mit waschechten Demokraten sprechen will, redet bald nur
noch mit sich selbst.
Der vollständige Leitartikel: Manche werden sagen, sie haben es
kommen sehen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sei mit
Vollgas in die Autokraten-Falle getappt, lautet ihre Erzählung. Das
Drehbuch: Machtrausch, Hybris, Wirklichkeitsverlust, Totalschaden.
Man kann Erdogan zu Recht ein Allmachts-Syndrom unterstellen. Mit dem
neuen Präsidialsystem hat er sich praktisch unbeschränkte Kompetenzen
absegnen lassen. Er kann die Opposition nach Belieben schikanieren,
die Presse mundtot machen und sich pausenlos als Retter inszenieren.
Parallel zur Selbstbeweihräucherung findet der Kampf gegen die Feinde
statt, die überall sitzen. Im Frühjahr 2017 war es Kanzlerin Angela
Merkel, der Erdogan „Nazi-Methoden“ unterstellt hatte. Grund:
Türkische Politiker durften in Deutschland keine Wahlkampfreden für
das Verfassungs-Referendum halten. Heute hat sich Erdogan auf
US-Präsident Donald Trump eingeschossen. Dieser schütze den
angeblichen Drahtzieher des gescheiterten Putsches vom Juli 2016 im
Exil, heißt der Vorwurf. Und er zettele einen „Wirtschaftskrieg“
gegen Ankara an. Erdogan verschanzt sich hinter
Verschwörungstheorien. Schuld sind immer die anderen. Der dramatische
Verfall der türkischen Lira zeigt aber gerade, dass sich Erdogan mit
seiner Ich-gegen-den-Rest-der-Welt-Kampagne in die eigene Tasche
lügt. Er hat den Unternehmen seines Landes jahrelang
milliardenschwere öffentliche Aufträge verschafft. Schmiermittel war
eine Politik des billigen Geldes der Zentralbank. Diese müsste jetzt
eigentlich einschreiten, um die mit einer überhitzten Konjunktur
einhergehende Inflation mit höheren Leitzinsen zu dämpfen. Doch
Erdogan blockiert. Er will die Wirtschaft weiter unter Dampf halten.
Das löst einen fatalen Dominoeffekt aus. Die internationalen
Investoren ziehen ihr Kapital aus der Türkei ab und legen es in
harten Währungen an – zum Beispiel den Dollar. Die Lira bricht ein.
Türkische Unternehmen, die ausländische Kredite bedienen müssen,
stehen blank da. Vor allem für südeuropäische Banken, die viele
Milliarden Euro an das Land am Bosporus ausgeliehen haben, ist das
ein Risiko. Da deutsche Geldhäuser in Südeuropa sehr stark engagiert
sind, hängen sie mit drin. Deutsche Export-Firmen wiederum leiden an
schwindenden Absatzmärkten, weil ihre türkischen Geschäftspartner die
hohen Euro-Preise nicht mehr bezahlen können. All dies ist jedoch
kein Grund zur Schadenfreude. Die Türkei hat sich zu einem
ertragsstarken Schwellenland entwickelt. Floriert es, ist es gut für
Europa. Erdogan hat als Ministerpräsident in den Jahren ab 2003
vieles richtig gemacht. Er hat die Wirtschaft entbürokratisiert und
die Voraussetzungen für einen langen Aufschwung geschaffen. In der
aktuellen Finanzkrise hat er sich hingegen verrannt. Die EU wäre gut
beraten, die Türkei nicht abzuschreiben; es gibt auch eine Zeit nach
Erdogan. Was nottut, ist strategische Geduld. Die Europäer und die
Nato müssen mit dem Türken im Gespräch bleiben. Auch, was dessen
Kuschelkurs mit „neuen Freunden und Verbündeten“ im Osten betrifft –
vor allem mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Wenn Erdogan am
28. und 29. September nach Deutschland kommt, geht es um die Kunst
des Dialogs hinter den Kulissen. Öffentliche Schelte bringt billigen
Beifall auf der innenpolitischen Galerie, führt aber zu nichts. In
der Ära der Autokraten, wo zwischen Washington und Peking verbale
Muskelspiele hoch im Kurs stehen, ist der direkte Austausch wichtiger
denn je. Wer nur noch mit waschechten Demokraten sprechen will, redet
bald nur noch mit sich selbst.
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