BERLINER MORGENPOST: Kommentar zur steigenden Zahl von Jugendlichen in Obhut vonÄmtern

33 710 Inobhutnahmen melden die Statistiker.
Zehntausende Male schritten Jugendamtsmitarbeiter, Polizisten und
Richter zur Tat, ordneten an, dass Kinder aus ihrem Elternhaus ins
Heim gebracht werden sollten. Nicht selten waren es auch Jugendliche,
die selbst fanden, dass ihr Zuhause kein Schutzraum sei. 33 710
furchtbare Tragödien, denen meist jahrelanges Leid vorausgegangen
ist. Und mindestens doppelt so viele Menschen, die unter dem Trauma
der Heimunterbringung leiden. Denn nicht nur diese Kinder haben viel
mitgemacht, auch die in der Regel völlig überforderten Mütter und
Väter sind arm dran, weil sie bei ihrer wichtigsten Aufgabe versagen.
Dass die Jugendämter immer häufiger intervenieren, bedeutet aber
nicht, dass die Zustände in den Familien immer schlimmer werden.
Vielmehr haben aufsehenerregende Fälle wie der des kleinen Kevin, den
sein drogenabhängiger Ziehvater zu Tode geprügelt hat, oder der
qualvolle Hungertod der Lea-Sophie in Schwerin Bevölkerung, Politiker
und Jugendamtsmitarbeiter sensibilisiert. Viele Nachbarn schauen
nicht mehr weg, wenn nebenan Kinder verwahrlosen. Zweifelsohne ist
ein Heimplatz besser als das Martyrium, das manches Kind in der
Familie erleidet. Doch die Inobhutnahme ist fast immer eine
Bankrotterklärung des Staates, der das Wächteramt innehat. Bei der
Geburt eines Kindes wollen Mütter und in den meisten Fällen auch die
Väter gute Eltern sein. Selten ist Sadismus die Ursache von
Kindesmisshandlung oder schwerer Verwahrlosung. Es sind Überforderung
und Unfähigkeit, die einen Bruchteil der Eltern zu Monstern werden
lassen. Frühzeitige Hilfsangebote könnten – nicht immer, aber
häufiger, als es heute der Fall ist – eine spätere Heimunterbringung
verhindern. Viele junge Paare müssen erst von Grund auf lernen, was
es bedeutet, verantwortungsvoll ein Kind zu versorgen und zu
erziehen. Hier sind mehr Angebote nötig – dann braucht es später
seltener Zwang. Die stark gestiegene Anzahl von Heimunterbringungen
ist allerdings möglicherweise auch ein Anzeichen dafür, dass die
Ämter mitunter vorschnell zu dieser drastischsten aller staatlichen
Familienhilfen greifen. Immer wenn in der Vergangenheit ein Kind zu
Tode kam, wurde öffentlich die Unfähigkeit der Sozialarbeiter
angeprangert. Solche Anklagen sind berechtigt, wenn die Jugendämter
bei ihnen bekannten Problemfällen nicht darauf bestanden, die Kinder
selbst in Augenschein zu nehmen. Doch die Hoffnung, dass
problembelastete Familien die Kurve kriegen können, sollte man den
Fachleuten nicht zum Vorwurf machen. Und es sollte weiterhin stets
die Strategie der Ämter sein, zunächst alle anderen Hilfsangebote in
Erwägung zu ziehen, bevor sie veranlassen, dass die Jungen und
Mädchen von ihren Eltern getrennt aufwachsen müssen. Die Einstellung,
professionelle Erzieher seien für belastete Familien in jedem Fall
besser als das Verbleiben in den eigenen vier Wänden, führt ebenso in
die Irre, wie das Leugnen von Problemen in der Unterschicht.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Matthias Heine
Telefon: 030/2591-43650
bmcvd@axelspringer.de