BERLINER MORGENPOST: Nur auf die Unsicherheit ist Verlass – Leitartikel von Hajo Schumacher

Neulich das Gespräch mit einer jungen
Unternehmerin: Ja, der Laden laufe ganz gut. Dennoch sei sie
vorsichtig und habe zwei von vier Mitarbeitern auf Teilzeit gesetzt.
Die Kosten, der Druck, die Unsicherheit – lieber sicher klein, als
mit Risiko expandieren. Wer immer sich mit seinem Geschäft in der
Selbstständigkeit bewegt, lässt Obacht walten. Wer glaubt denn an
eine stabile Konjunktur? Skepsis beherrscht das Land. Überall
Abgaben, nirgendwo Respekt, schon gar nicht von einer Politik, die
trotz sensationeller Einnahmen keinen Haushalt zustande bringt, den
ein deutsches Finanzamt akzeptieren würde. Man muss kein
Wirtschaftsforscher sein, um ein beängstigendes Flirren im Lande zu
vernehmen. Klar, die Geschäfte gehen, die ökonomischen Daten scheinen
beruhigend. Dennoch: Die Unsicherheit überwuchert Vertrauen.
Arbeitsverträge werden befristet vergeben, niemand will sich
festlegen. Allenfalls niedrige Zinsen motivieren zur Investition.
Fast fünf Millionen Selbstständige, die mit hohem persönlichem Risiko
Schwung ins Land bringen, sind ein guter Indikator für die Stimmung
einer Volkswirtschaft. Optimismus? Nirgendwo. Die Erfahrungen der
vergangenen Jahre sind Lehre genug. Unsicherheit, nur darauf ist
Verlass. Der schrumpfende Dax signalisiert die nahende Spanien-Panik,
der nächste Fantastillionenschirm wird schon wieder gespannt. Alle
reden über Günter Grass und den Nordkoreaner Kim, die
Silvesterraketen über ihre eigenen Statuen ballern. Aber keiner redet
über die, die in Deutschland jeden Tag für Umsatz sorgen, mit letzter
Tinte: Ladenbesitzer, die von Filialisten plattgemacht werden,
Dienstleister, die putzen, flicken, liefern, Kreative, die gerade in
Berlin jeden Tag etwas Neues produzieren, falls sie nicht von
sinistren Abmahn-Geiern gequält werden. „Mehr Netto vom Brutto“ hatte
diese schwarz-gelbe Bundesregierung versprochen, mehr Bildung, mehr
Anerkennung für die, die die Wirtschaft am Laufen halten. Nichts
davon ist eingetroffen. Selbst die kalte Progression gibt es noch.
Eher wird Hertha deutscher Meister, als dass sich bis zur
Bundestagswahl im kommenden Jahr etwas ändert. Mit den Landtagswahlen
in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfahlen, die in wenigen Wochen
stattfinden, haben 18 Monate Kampagne begonnen, das Gegenteil von
Handeln. Bis Ende 2013 aber wird sich die Konjunktur abgekühlt, die
Euro-Krise in Wellen verschärft haben. Und das ist die wirklich
deprimierende Nachricht: So gut wie jetzt wird es so bald nicht
wieder. Altkanzler Gerhard Schröder hat unlängst eine Agenda 2030
gefordert, mit den Megathemen Bildung, Energie und Wirtschaft. Recht
hat er. Dass diese oder eine andere Regierung die Kraft dafür
aufbringt, ist indessen nicht zu erwarten. Ausgerechnet Schröder ist
das abschreckende Beispiel dafür, was Politikern geschieht, die
handeln. Und nun? Vorsicht walten lassen. Keine Leute einstellen,
Ausgaben reduzieren, Juristen, Berater, Provisionsjäger auf Distanz
halten. Wie schnell stolze Wirtschaftsnationen mit starken Produkten
abstürzen, zeigen die Japaner. „It–s a Sony“ ist Historie. Der
Nächste, bitte.

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