BERLINER MORGENPOST: Produktive Kraft der Stärke – Leitartikel

Die Glaubensbotschaften des Papstes entfalten in
Deutschland große Ausstrahlungskraft. Dies kann für Benedikt XVI.
nach seiner viertägigen Reise nach Berlin, Erfurt und Freiburg ein
großer Trost und eine enorme Bestätigung sein. Es muss ihn aber auch
beunruhigen. Befriedigt kann er zunächst feststellen, dass seine
Kirche den gegenwärtigen Atheismus nicht fürchten muss. Was sich
jetzt zum Papst-Besuch an Ignoranz, Autoritätsnegierung und Juxerei
aufplusterte, war so kindisch, dass nicht einmal die Religionslosen
in größerem Umfang mobilisiert werden konnten. Hingegen war es
überaus beeindruckend zu sehen, mit welcher Offenheit und Gläubigkeit
viele Deutsche die katholischen Liturgien sowie das Amtscharisma, die
Überlegungen und Predigten des Papstes auf sich wirken ließen. Warum
muss dieser Zuspruch das Oberhaupt der katholischen Kirche
beunruhigen? Weil der Zuspruch im Widerspruch zu Benedikts These von
der religionsfeindlichen Grundstimmung in Deutschland steht, wo die
Kirche zwangsläufig die Rolle einer hart widersprechenden,
provozierenden Minderheit annehmen müsse. Diese These ist mit großen
Fragezeichen zu versehen. Schon deshalb, weil doch heute fast alle
von sich behaupten, einer Minderheit der Aufrechten anzugehören, die
von einer bösen Mehrheit bedrängt werde. Margot Käßmann nimmt das für
sich in Anspruch, die Linkspartei, ebenso die vehementen
Islamkritiker und die Befürworter häuslicher Kleinkindbetreuung. Quer
durchs ideologische Spektrum will fast jeder heute von irgendeinem
Mainstream unterdrückt werden. Muss sich da auch noch die katholische
Kirche einreihen? Wäre es nicht ein Armutszeugnis, wenn sie ihr Licht
nur dadurch zum Leuchten bringen könnte, dass sie die komplette
Umgebung in den schwärzesten Farben malt? Das größte Fragezeichen
hinter Benedikts Grundthese aber haben jetzt die Gläubigen in
Deutschland gesetzt. Gerade in Freiburg, wo sie die öffentlichen
Plätze mit ihrer Freude über den ihnen zugewanden Papst erfüllten,
haben sie eine vitale Volkskirchlichkeit demonstriert, die sich ihrer
Überzeugungen nicht schämt, sondern den christlichen Glauben im
bürgerlichen Leben ausdrücken will. Damit eröffnet sich eine Chance
für den innerkatholischen Streit zwischen Reformern und Bewahrern.
Dieser Streit ist bislang von gegenseitiger Verachtung geprägt. Viele
konservative Bischöfe verachten das Kirchenvolk als lau und
liberalistisch. Umgekehrt hat sich in zahlreichen Gemeinden die
Haltung verfestigt, die höheren Geweihten bis hinauf zum Papst seien
so kalte Knochen, dass man ihnen keine wärmeren Gefühle
entgegenbringen kann. Jetzt aber, nach diesem Besuch, haben beide
Seiten allen Grund, ihre eigenen Vorurteile kritisch zu überprüfen.
An der Basis muss man sich sagen: Tatsächlich, der Papst mag uns, und
wir mögen ihn. Zwar ist mit gegenseitiger Anerkennung noch kein
Strukturproblem vom Priestermangel bis zur Stellung der Frauen
gelöst. Doch hierüber lässt sich produktiver und toleranter reden,
wenn man sich miteinander verbunden fühlt. Statt sich in zwei
verfeindeten Lagern zu sehen, von denen jedes versucht, das andere zu
erobern.

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