BERLINER MORGENPOST: Protest in Berlin völlig entpolitisiert/ Ein Leitartikel von Hajo Schumacher

Wo ist sie denn nun, die Revolution, das andere,
bessere, alternative Leben? In der vergangenen Woche haben wir im
Viktoriapark gesucht und auf dem MyFest. Und was war? Zwischen
gewaltigen Herden bierschwenkender Feierbiester bewahrten ausgesucht
zurückhaltende Polizisten die Ruhe. Von Politik kaum eine Spur. Der
1. Mai in Berlin, einst Symbol für die Bürgerkriegsfantasien
wohlstandssatter Hooligans, ist so politisch wie das Oktoberfest,
nämlich gar nicht.

Hier trifft sich der EasyJet-Set aus ganz Europa, zeigt sich die
neuesten Ölfrisuren und verkifft das Taschengeld von Vati; eine
weitere Veranstaltung im endlosen Berliner Partykalender zwischen
Karneval der Kulturen und Fashion Week mit diesem speziellen
Kreuzberger Aroma aus illegal und scheißegal und jenem leichten
Grusel, dass ja vielleicht doch Randale passieren könnte. Immerhin
schleichen ja doch einige schwarze Kapuzenkasper umher, die es nicht
bis Hamburg oder Rostock oder Istanbul gebracht haben –
wahrscheinlich Ein-Euro-Kräfte der Berlin-Marketing.

Man muss schon hartgesotten sein, um sich mit 40.000 anderen durch
die Oranienstraße zu drängeln, in einem Fußbad aus abgenagten
Maiskolben, Bierlachen und Dönerresten. Oben drüber flattert – huibuh
– ein blutrotes Bettlaken, auf dem „Widerstand“ steht. Aber hier ist
überhaupt kein Widerstand, sondern Drängeln und Gucken, jeder wippt
ein bisschen mit, man zeigt die neuesten Edelstahlschmuckstücke im
Gesicht. Es ist wie auf jedem elenden Straßenfest: Alle fühlen sich
total individuell in dieser amorphen Trottmasse im trägen Berliner
Hangout-Modus.

So haben sich die Begründer des 1. Mai die Entwicklung bestimmt
nicht vorgestellt, als Arbeiter vor 128 Jahren in Chicago für den
8-Stunden-Tag demonstrierten. Heute wird das Nackensteak aus
Massentierhaltung gespachtelt, Bier vom internationalen
Brauerei-Multis getrunken, und dabei total widerständig durch die
schicke Sonnenbrille gespechtet. Und als Liveshow kann man nebenbei
beobachten, wie Polizisten in ihren schweren Ausrüstungen hinter
Demonstranten hermarschieren. Perfektes Touristen-Berlin, diese
Mischung aus Eventshopping und Abenteuerferien mit ungefähr so viel
Revolutionsanteil wie in der Hollister-Reklame.

Es gäbe durchaus Anlass für klugen, berechtigten Protest, ob es
die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist, die unverantwortliche
Rentenpolitik der Bundesregierung oder die Feigheit im Umgang mit
Edward Snowden. Aber das ist den Menschen hier völlig egal, die den
1. Mai konsensual entpolitisieren. So ist auch Demoteilnehmer
Hans-Christian Ströbele längst zum Bestandteil der Kreuzberger
Links-Folklore geworden oder Jutta Ditfurth, deren Rede keinen
Menschen interessiert, weil die Lautsprecheranlage so schlecht ist
und die Musik so laut und sowieso keiner zuhören will.

Nein, diese Linke kann Karl Marx nicht gewollt haben. Deutschland
hat eine klügere, originellere Opposition verdient, mit mehr Hirn,
weniger Attitüde und ohne diese Brüllaffen, die für bezahlbare Mieten
sind, aber strikt dagegen, dass am Rande des Tempelhofer Feldes
Wohnungen zu bezahlbaren Tarifen errichtet werden. Manchmal
verzweifelt man nicht nur an der Politik, sondern auch an den
Bürgern.

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