BERLINER MORGENPOST: Protestfolklore schlägt Kompromisskultur Hajo Schumacher über den Konflikt über die Räumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße 14

Vor 20 Jahren begann in Hamburg der Kampf um die
Häuser an der Hafenstraße. Nach mehreren Jahren erbitterten
Schlachten auf allen Ebenen gehören die Altbauten am Hafenrand
inzwischen einer Genossenschaft, sind saniert und dienen Touristen
als schicke Fotogelegenheit. Früher, in den heißen Tagen, fuhren
Busgruppen von auswärts in angemessenem Abstand vorbei, um mit
wohligem Grusel Autonome zu gucken. In Berlin war die Lage zwar etwas
unübersichtlicher. Aber im Rückblick auf die Historie des deutschen
Häuserkampfs lässt sich zumindest eines festhalten: Am Ende steht ein
Kompromiss, sofern alle Beteiligten wollen. Falls nicht, wird erst
prozessiert und schließlich geräumt. Dieses Muster gilt seit einem
Vierteljahrhundert unverändert. Der von allen Seiten mit großem
Pathos vorgetragene Zoff um „Liebig 14“ bedeutet für alle Beteiligten
einen Rückfall in die Urzeiten des deutschen Häuserkampfes. Während
am südöstlichen Rand des Mittelmeeres Millionen Menschen um Großes
kämpfen, wird in Berlin eine Gala der Albernheiten gegeben. Da fahren
Wasserwerfer vor einer Ruine auf, in deren Innern eine Handvoll
Unentwegter wohl eine Art Dschungelprüfung absolvieren wollen. Fehlt
nur noch, dass die Besetzer die „Zusammenlegung aller Gefangenen“
fordern und sich gegenseitig mit Victory-V auf einer Trage
fotografieren. Auf Twitter wird zweiminütlich live zur Lage
berichtet, als ging es um irgendwas. Aber das ist Unsinn: Verglichen
mit den wirklichen Problemen überall auf der Welt, geht es in der
Liebigstraße 14 um nichts als Folklore. Köln hat den Karneval,
München das Oktoberfest und Berlin gelegentliches Reality-Rambazamba.
Was mit der Volkskampfrhetorik von Freiheit und Menschenrechten
daherkommt, ist nur mehr ein leeres Ritual, ein Nachspielen von den
alten Filmen, ein nerviges Gerangel, das so viel intellektuelle
Spannung birgt wie die allsamstägliche Hatz zwischen Polizei und
Hooligans. Dass die Staatsgewalt das Spiel mit nicht weniger Pathos
und größtmöglicher Uneleganz mitspielt, macht die Sache nicht besser.
Aufrichtiges Mitleid für alle Polizisten, die sich unter ihren Helmen
fragen mögen, ob der Aufmarsch angemessen ist für eine Handvoll
egomanischer Jugendlicher, deren Widerstand mit ein paar Kästen Bier
wohl sehr viel einfacher und billiger zu brechen gewesen wäre. Um die
Gesellschaft gehe es ihnen, haben die Besetzer erklärt. Doch der
Gesellschaft ist an diesen selbst ernannten Revolutionsführern wenig
gelegen, wie massenhaft ausbleibende Solidaritätsbekundungen
beweisen. Natürlich sind Mieterhöhungen und Gentrifizierung ernste
Probleme, zumal in einer Stadt, deren globale Attraktivität sehr viel
mit Bezahlbarkeit zu tun hat. Aber „Liebig 14“ ist kein
Protestprojekt, das irgendeine originelle Form des Widerstands,
irgendeine gesellschaftliche Relevanz oder politische Antwort auf die
realen Probleme hätte. „Liebig 14“ ist vielmehr ein Klub für
Abenteuer-Touristen, die auch mal außerhalb der Saison das
1.-Mai-Spiel spielen wollen. Demokratischer Fortschritt, und den kann
man ja auch mal im Blick haben, hat immer mit Kompromissen zu tun,
mit einem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und einer gewissen
Ernsthaftigkeit in Zielen und Argumenten. Der Kampf um die
Liebigstraße 14 ist ein Rückschritt.

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