BERLINER MORGENPOST: Reha-Klinik statt Haftanstalt Jochim Stoltenberg zum Karlsruher Urteil gegen die bisherige Sicherungsverwahrung

Gerichte sprechen Recht, das die Bürger allerdings
nicht immer als gerecht empfinden. Vor allem dann nicht, wenn es um
ihr eigenes, sehr berechtigtes Schutzbedürfnis geht. Jüngstes
Beispiel dafür ist das gestrige Urteil der Karlsruher Richter, mit
dem sie sämtliche Regelungen zur Sicherungsverwahrung von
Schwerstkriminellen als verfassungswidrig eingestuft haben. Es ist
ein Urteil, das für den Normalbürger schwer verständlich ist. Ein
Jurist dagegen wird es eher als konsequent bewerten. Der Spruch der
obersten Verfassungsrichter zur Sicherungsverwahrung von gefährlichen
Sexual- und Gewaltstraftätern zeugt einmal mehr von der schwierigen
Abwägung zwischen dem Schutzbedürfnis der Bürger einerseits, dem
Grundrecht auf Freiheit auch für Täter, die ihre Strafe verbüßt
haben, andererseits. Was bei vielen Bürgern auf Unverständnis stößt,
kommt für die Politik einer weiteren scharfen Zurechtweisung durch
die Hüter unseres Grundgesetzes gleich. Erst Anfang des Jahres hatte
die Bundesregierung auf Druck des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte die Paragrafen zur Verwahrung von Straftätern über
deren Haftstrafe hinaus mildernd reformiert. Vergebliche juristische
Müh. Die deutschen Verfassungsrichter verlangen jetzt weit mehr:
binnen zwei Jahren ein völlig neues Gesamtkonzept zum Schutz der
Bürger vor Straftätern mit miserablen Perspektiven auch nach der
Haftzeit. Zurzeit werden bundesweit etwa 500, allein in Berlin 39
Sicherungsverwahrte mehr schlecht als mit Hoffnung auf Besserung
verwaltet. Aber zum Trost für alle Stammtischdebattierer haben die
Richter die Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich verworfen. Und
das ist gut so. Die Auflagen allerdings, die sie für eine
Unterbringung nach abgesessener Strafe ins Urteil geschrieben haben,
sind hoch; sehr hoch. Nicht allein, dass die Voraussetzungen für die
Verhängung der Sicherungsverwahrung drastisch zu verschärfen sind.
Die Häuser, in denen die Gemeingefährlichen künftig betreut werden
sollen, werden umzäunten Reha-Kliniken mit offenen Toren gleichen.
Drinnen viel Therapie, intensive Pflege und Betreuung samt familiären
Beziehungen. Und soziale Kontakte nach draußen. Das verlangt nicht
nur einen zusätzlichen hohen Personalaufwand. Das wird auch teuer.
Und sehr Erfolg versprechend klingt es auch nicht. Wenn die Hürden
für die weitere Sicherungsverwahrung so drastisch erhöht werden,
liegt doch wohl ein Schluss sehr nahe: Die Gerichte müssen zum Schutz
der Bürger vor Trieb- und schwersten Gewalttätern längere
Freiheitsstrafen verhängen. Selbst „lebenslänglich“ heißt in
Deutschland allenfalls 15 Jahre Knast. In anderen Ländern können
Mörder bis zu 40 Jahre einsitzen. Apropos Bürgerschutz: Wenn die
Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue verspricht, ihre Behörde
sei bereits gut gerüstet, um die Berliner vor den
Sicherungsverwahrten zu schützen, die nach dem gestrigen Urteil auf
Freilassung hoffen können, kann man ihr und uns Berlinern nur viel
Glück wünschen. Das höchstrichterliche Urteil bestätigt einmal mehr,
dass es bisweilen nicht leicht ist, im Einklang auch mit den Tücken
des Rechtsstaats zu leben. Aber ohne den Rechtsstaat wäre das Leben
entsetzlich. Weil dann Willkür herrschte.

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