Eine weithin unterschätzte politische Kategorie ist
die Fortune. Derzeit darf die Kanzlerin eine Reihe glücklicher
Umstände genießen, die wenig mit Strategie, aber viel mit Zufall zu
tun haben. Zum Beispiel Nordrhein-Westfalen: Als Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft Mitte März Neuwahlen verkündete, schien ausgemacht,
dass SPD und Grüne ihre parlamentarische Unterlegenheit in eine
komfortable Mehrheit verwandeln würden. Das Erstarken der Piraten
könnte diesen Plan zunichtemachen. Merkels CDU wird zwar kaum
zulegen, aber die Niederlage wird nicht die Parteichefin treffen,
sondern Seuchenvogel Norbert Röttgen, der weder in der CDU noch beim
Wähler nennenswerten Kredit genießt. Am Ende könnte es in NRW mangels
anderer Mehrheiten sogar zu einer großen Koalition kommen – davon
träumte die Union Anfang des Jahres nicht mal. Dass die FDP wohl in
den Düsseldorfer Landtag einzieht wie vergangene Woche in Kiel,
dürfte der Kanzlerin ebenfalls gefallen. Mögen sieche Partner für
eine Weile praktisch sein, weil sie beim Regieren nicht stören, so
wirkt eine balancierte Koalition allemal stabiler als der
Hühnerhaufen der vergangenen zweieinhalb Jahre. Ob die Liberalen sich
für Gauck als Präsidenten einsetzten, Schlecker-Hilfen ablehnten oder
Griechenland-Milliarden – klare Positionen zwingen zu Debatten,
Kompromissen und verbreitern trotz gelegentlichen Zoffs das
inhaltliche Angebot. Was Angela Merkel derzeit allerdings am
glücklichsten stimmen dürfte, ist die SPD. Trotz der Zugewinne in
Schleswig-Holstein wird klar, dass der Wähler nicht automatisch zur
Sozialdemokratie wechselt, ist er mit Schwarz-Gelb unzufrieden. In
Berlin wächst daher die Spannung im Dreigestirn Steinmeier,
Steinbrück, Gabriel. Egal, welcher Kandidat, welche Strategie –
keiner der drei kann die Partei hinter sich vereinen. Eine
gedrittelte SPD aber ist der ideale Gegner für die Bundestagswahl
2013. Die Kanzlerin braucht ja kein strahlendes Ergebnis, sondern nur
ein paar Prozentkrümel mehr als die anderen. Klaus Wowereit reichten
auch 28 Prozent, um erneut Regierender zu werden. Selbst
international bekommt die Bundeskanzlerin eine Verschnaufpause.
Symbolisierte die oberste Deutsche noch vor Kurzem das hässliche
Europa mit seinen brutalen Sparauflagen, richten die Griechen ihren
Zorn derzeit wieder nach innen. Die Suche nach Schuldigen wird sich
ein paar Neuwahlen lang auf den Großraum Athen beschränken. Zugleich
lassen sich Hilfszusagen taktisch zurückhalten, was dem deutschen
Wähler gefallen wird. Und selbst Paris scheint sich nicht zum Problem
zu entwickeln. Lieber ein berechenbarer Sozialist als Sarkozy, sagt
man sich im Kanzleramt. Das einzige Problem an ihrer Glückssträhne:
Die Kanzlerin kann sich nicht mal eine Woche lang darauf verlassen.
Fußball-EM und Olympia mögen die Aufmerksamkeit den Sommer über von
der Politik ablenken. Aber die nächste Krise kommt bestimmt. Und zwar
genauso überraschend wie das Glück.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de
Weitere Informationen unter:
http://