BERLINER MORGENPOST: Zwei Völker überwinden ihre Vorurteile – Leitartikel

Welch ein Wandel! Als Helmut Kohl und Jan Krzysztof
Bielecki vor zwanzig Jahren den deutsch-polnischen
Nachbarschaftsvertrag unterzeichneten, konnte von guter Nachbarschaft
keine Rede sein. Die Deutschen blickten eher geringschätzig auf den
Nachbarn im Osten herab. Die ärmlichen Polenmärkte auf jener Brache,
auf der heute der neue Potsdamer Platz glänzt, symbolisierten die
existenzielle Not der eigentlich doch so stolzen Polen. Es wurden
dumme Sprüche gerissen und sich über gestohlene Autos mokiert, die
angeblich schneller in Polen waren als die Polizei am Tatort. Die
polnische Gesellschaft andererseits betrachtete die Deutschen, die
ihnen im Krieg so viel Leid angetan hatten, unvermindert mit tiefem
Misstrauen. Konnte man ihnen wirklich trauen? Würde ein
wiedervereinigtes großes Deutschland den kleinen Nachbarn überhaupt
noch ernst nehmen? Und würde es ein verlässlicher Verbündeter sein
bei Polens Mühen, wieder Teil des freien Europa zu werden? Heute
wissen wir: Die Nachbarschaft ist eine geworden, auf der weiter
aufzubauen beide Seite entschlossen sind. Erstmals, so eine Umfrage
des Instituts für Demoskopie Allensbach, betrachtet eine Mehrheit der
Deutschen die Polen mit Sympathie. Bei den Polen ging das schneller.
Schon vor zehn Jahren war ihr Misstrauen gegenüber dem westlichen
Nachbarn mehrheitlich verschwunden. Vorurteile vergiften die
Beziehungen im persönlichen wie im zwischenstaatlichen Bereich. Sie
sind zwischen beiden Völkern weitgehend ausgeräumt, seit die Menschen
sich problemlos begegnen können, seit die leidige Grenzfrage ein für
allemal einvernehmlich geregelt ist und seitdem beide Seiten
wirtschaftlich voneinander profitieren. Die polnische Wirtschaft etwa
ist erstaunlich gut durch die Finanzkrise der vergangenen Jahre
gekommen. Heute fahren immer mehr Deutsche aus dem strukturschwachen
Vorpommern zum Arbeiten in die prosperierende Grenzregion um Stettin
und Danzig. Umgekehrt ist Deutschland für viele Polen nach wie vor
ein interessanter Arbeitsmarkt – ohne dass die neue totale
Freizügigkeit zu einer Verdrängung deutscher Arbeitskräfte geführt
hat, wie viele vorher unkten. Und langsam spricht sich auch herum,
dass erfolgreiche polnische Unternehmen längst hierzulande
investieren und damit Arbeitsplätze auch für Bundesbürger schaffen.
Eine wirklich gute Nachbarschaft also, die sich da entwickelt hat.
Sie kann auch nicht mehr von den paar Störenfrieden im
nationalkonservativen Lager ernsthaft gefährdet werden. Nicht vom
früheren Regierungschef Jaroslaw Kaczynski und dessen Partei, auch
nicht von den blinden Wüterichen gegen das deutsche Zentrum zur
Dokumentation von Vertreibungen. Und nicht von dessen Vorkämpferin,
der Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach – ihr ist deutlich mehr
Fingerspitzengefühl im Umgang mit ihren polnischen Kontrahenten und
deren Gefühlen zu wünschen. Am 1. Juli übernimmt Polen den Vorsitz im
Rat der EU. Wer hätte das vor zwanzig Jahren gedacht? Welch ein
Wandel, welch glückliche historische Fügung!

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