Beschädigte Koalition / Kommentar von Raimund Neuß zu den Umständen der Kanzlerwahl von Friedrich Merz

Beschädigte Koalition / Kommentar von Raimund Neuß zu den Umständen der Kanzlerwahl von Friedrich Merz
 

Gleich mit dem ersten Tag seiner Kanzlerschaft hat Friedrich Merz einen besonderen Platz in den Geschichtsbüchern sicher – allerdings keinen, den er sich hätte wünschen können. Eine Kanzlerwahl, die im ersten Anlauf scheitert und wiederholt werden muss, die hat es in der Geschichte des Bundestages noch nicht gegeben. 18 Stimmen fehlten Merz im ersten Wahlgang zur Kanzlermehrheit – ein mehr als deutliches Signal. Eine Demütigung, auch wenn es dann im zweiten Wahlgang klappte.

Wer aus den Reihen der schwarz-roten Koalition gegen Merz gestimmt hat, wird vermutlich nie herauskommen. Dass sich die meisten, die ihm ihre Stimme verweigerten, dann im zweiten Durchgang umentschieden, mag die Einschätzung rechtfertigen, dass es hier eher um das Zusammentreffen vieler Einzelentscheidungen ging als um eine konzertierte Aktion.

Mögliche Motive für die Destruktion per Stimmkarte gibt es viele – in beiden Lagern: Der strategische Fehler von Merz, noch vor der Wahl AfD-Stimmen für seine Anträge zur Migrationspolitik in Kauf zu nehmen; das wechselseitige Beharken von SPD und CDU beim Thema Mindestlohn; die erst am Montag verkündeten Personalentscheidungen, mit denen SPD-Chef Lars Klingbeil manche Parteifreunde gegen sich aufgebracht haben mag. Dazu die Unzufriedenheit in der Union mit den Ausnahmeregeln bei der Staatsverschuldung.

Aber was immer einzelne Abgeordnete jeweils bewegt haben mag – bei den 18 Unbekannten fragt man sich, ob sie die dramatische Situation begriffen haben, in der unser Land steht. Welche sachlichen Einwände oder welche Vorbehalte gegen einzelne Personen es bei wem auch immer geben mag – nichts davon kann die Entscheidung rechtfertigen, mit dem neuen Bundeskanzler zugleich auch die gesamte Regierung schon am ersten Tag aus den eigenen Reihen heraus zu beschädigen und zu schwächen. Eine Regierung, die – unabhängig davon, ob man beispielsweise den Kanzler oder den Vizekanzler nun besonders schätzt oder nicht – die aktuell einzig verfügbare Option bietet, unser Land einigermaßen sicher durch eine extrem gefährliche Zeit zu steuern.

Was sich da gestern beobachten ließ, war ein verantwortungsloses Spiel mit der eigenen Stimme in einem Bundestag, in dem eine vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch bewertete Partei die zweitstärkste Fraktion bildet. Und das angesichts des größten Krieges in Europa seit 1945, der die Sicherheit unseres ganzen Kontinents bedroht, angesichts hybrider russischer Angriffe auf unser Land, angesichts der unberechenbaren Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik von US-Präsident Donald Trump.

Ein wenig Hoffnung mag man aus dem Umdenken der meisten anfänglichen Verweigerer im zweiten Wahlgang schöpfen. Die Regierungsmitglieder und die Fraktionsführungen der Koalitionsparteien müssen jetzt alles daran setzen, den eigenen Abgeordneten zu vermitteln, welche Aufgabe erste Priorität hat: die Sicherung unseres demokratischen Gemeinwesens nach innen und nach außen. Nur wenn sie das schaffen, werden sie auch die Bürgerinnen und Bürger überzeugen können.

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