Börsen-Zeitung: Branche ohne Vision, Kommentar von Antje Kullrich zur Lage der deutschen Versicherungswirtschaft

Der Ausblick der deutschen Versicherer auf das
laufende Jahr ist ziemlich verhalten: Die Branche rechnet 2011 nur
mit einem leichten Anstieg der Beitragseinnahmen. Auch die Stimmung
ist gedrückt: Überall lauern Gefahren, sei es von Regulierungsseite,
Kapitalmärkten oder den Naturgewalten. Das neue Regelwerk für die
Kapitalanforderungen Solvency II beschäftigt die Häuser schon jetzt
mit endlosen Berichtspflichten, Zahlenkolonnen und Modellrechnungen.
Die Schuldenkrisen in Euroland, die politischen Entwicklungen in
Nahost und Nordafrika und der Einfluss der japanischen
Atomkatastrophe auf die Weltwirtschaft könnten sich noch an den
Finanzmärkten und damit in den Kapitalanlagen der Versicherer
niederschlagen. Und die Auswirkungen des Klimawandels sind angesichts
zunehmender Überschwemmungen durch Starkregen auch schon in
Deutschland zu besichtigen – die Schadenquoten steigen.

Die Risikomanager haben in der Versicherungswirtschaft derzeit das
Heft fest in der Hand. Sie machen ihren Job bis dato gut: Die Krisen
der vergangenen Jahre hat die deutsche Assekuranz gut überstanden und
sich als robust erwiesen. Diese Leistung ist auf keinen Fall zu
unterschätzen. Doch mit der ständigen Abwehr von Gefahren aller Art –
und das in immer schnellerer Abfolge – geht auch etwas verloren:
Innovationskraft und Kreativität.

Monoton predigt die Branche zum Beispiel seit Jahren Transparenz,
doch es tut sich nur wenig, Revolutionäres schon gar nicht. Selbst
die sprachliche Vereinfachung von Versicherungsbedingungen dauert
Monate oder Jahre – angesichts vieler Bedenkenträger in den Häusern,
die in der allgemeinen Stimmungslage gerade eine Renaissance erleben.

Oder die Diskussion um die Garantieprodukte in der
Lebensversicherung: Sie erschöpft sich in der Frage, ob sie künftig
noch möglich sein werden oder nicht. Die Frage nach Alternativen
spielt nur eine Nebenrolle. Das alles wirkt uninspiriert und seltsam
blutleer.

Für heutige Kunden der deutschen Versicherer ist deren fast
ausschließlicher Fokus auf Risikomanagement eine gute Nachricht, für
die Kunden und Shareholder von morgen aber nicht. Für frische,
wirklich neue Ideen für Produkte oder Vertrieb haben die Vorstände
der Assekuranz derzeit zu wenig Zeit und Kapazitäten – leider.

(Börsen-Zeitung, 31.3.2011)

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