Börsen-Zeitung: Das Erbe Löschers, Kommentar zu Siemens von Michael Flämig

Prognosen sind eine heikle Angelegenheit.
Schließlich ist die Zukunft ungewiss. Insofern ist das Streichen von
Zielen keine Schande per se. Die Wirtschaftsgeschichte kennt zahllose
Fälle von Vorstandsvorsitzenden, die gut begründet und
nachvollziehbar ihre Vorgaben über Bord geworfen haben. Der Fall
Siemens liegt aber anders. Im Streichen der Ergebnismarge 2014
kumulieren die Fehlleistungen, die Chef Peter Löscher dem Konzern
zugemutet hat. Sein Abschied kann nur eine Frage weniger Tage sein.
Die Herausforderung besteht darin, einen Nachfolger zu finden, der
die Führungskultur der deutschen Industrieikone restauriert.

Was ist schiefgelaufen bei Siemens unter Löscher? Die
Fehlleistungen liegen auf persönlicher, operativer und strategischer
Ebene. Qua Naturell ist es dem Österreicher nicht gegeben, Menschen
kommunikativ mitzunehmen. Konzernintern führt dies zu einem
Führungsvakuum. Es ist absurd, dass sich gleich drei Vorstände bei
einem benachbarten Dax-Wert als Vorstandschefs ins Gespräch brachten.
Extern vermag Löscher berechtigte Anliegen nur überzeugend zu
vertreten, wenn er sich an Redetexte hält. Frage-Antwort-Runden, die
im Kontakt mit Medien und Analysten üblich sind, enden in Floskeln.

Operativ reiht sich Fehlsteuerung an Fehlsteuerung, die Kosten für
die Investoren addieren sich auf einen Milliardenbetrag. Erst trat
Löscher aufs Wachstumspedal mit einem 100-Mrd.- Euro-Ziel für den
Umsatz und ruinierte die Marge, dann brachte er den Konzern mit der
Kehrtwende hin zum Sparprogramm 2014 ins Wanken. Der Schaden lässt
sich einerseits messen in missglückten Projekten: Die Liste reicht
über die Netzanbindung von Windparks in der Nordsee über den teuren
Areva- Ausstieg bis zur verzögerten Auslieferung von
Hochgeschwindigkeitszügen. Noch schwerer wiegt die Verunsicherung der
Mannschaft durch das Hü und Hott sowie durch mangelnde Detailkenntnis
des Chefs.

Strategisch hat Löscher Siemens nicht weitergebracht. Der Einstieg
in den Solarstrom endete im Desaster, bei der Energiewende setzte
Löscher aufs falsche Pferd, völlig neue Geschäftsfelder wurden nicht
erschlossen. Hinter Siemens liegen verlorene Jahre. Das dokumentiert
auch der Aktienkurs.

Was kommt? Der Aufsichtsrat hat die Entscheidungshoheit,
spätestens trifft er sich am Mittwoch. Prognosen sind auch hier eine
heikle Angelegenheit. Aber alles andere als ein Rückzug Löschers wäre
eine Farce. Ein externer Kandidat ist dann keine Option. Denn der
Nachfolger muss Siemens-Kenntnis besitzen, um den Konzern zu
stabilisieren.

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