Börsen-Zeitung: Die Anspannung steigt, Börsenkommentar „Marktplatz“, von Thorsten Kramer.

An den Finanzmärkten muss das Drehbuch für das
laufende Jahr überarbeitet werden. Denn der Auftritt des
US-amerikanischen Notenbankpräsidenten Ben Bernanke vor dem
Wirtschaftsausschuss im Kongress spricht dafür, dass die Anspannung
der Investoren im Laufe des zweiten Halbjahres von Monat zu Monat
wachsen wird. Von einem weiteren steilen Anstieg der Notierungen an
Europas Aktienmärkten dürfte jedenfalls kaum noch die Rede sein, wenn
Marktbeobachter jetzt in Richtung Jahresende blicken. Und dies steht
vielen vor fünfeinhalb Monaten veröffentlichten Ausblicken auf das
Börsenjahr eindeutig entgegen.

Rückblende: Mit Blick auf das neue Jahr waren sich damals viele
Anlagestrategen in der Einschätzung einig, dass 2013 ein starkes Jahr
für Dividendenwerte werden wird. Und mit dieser Einschätzung liegen
sie bislang ja auch sehr richtig. Fahrt sollten die Notierungen
allerdings erst dann aufnehmen, wenn sich eine Belebung der globalen
Wirtschaft abzeichnet. Und das sollte erst im Laufe der zweiten
Jahreshälfte so weit sein. Nach einem ersten Kursanstieg bis Mitte
März und vor allem dem steilen Anstieg der zurückliegenden Wochen
notieren inzwischen jedoch viele wichtige Aktienindizes auf einem
Niveau, das selbst ausgeprägte Optimisten erst für das Jahresende
erwartet hatten. Zur Erinnerung: In einer Umfrage dieser Zeitung
lautete die durchschnittliche Prognose von insgesamt 23
internationalen Banken für den Dax zum Jahresultimo lediglich auf
8256 Zähler. Er erreichte inzwischen aber bereits den Rekordstand von
8558 Punkten.

Der Grund dafür ist die ultralockere Geldpolitik der großen
Notenbanken, die dazu führt, dass die Märkte regelrecht mit
Liquidität geflutet werden. Investoren lenken diese Gelder natürlich
dorthin, wo sie noch auf eine auskömmliche Rendite hoffen dürfen.
Weil an den Anleihemärkten unter Beachtung eines vernünftigen
Chance-Risiko-Profils in vielen Segmenten kaum noch etwas zu holen
ist und der Rohstoffzyklus in Frage steht, gelten Aktien als erste
Wahl. Schließlich bieten viele Papiere attraktive Dividenden und
gewähren somit gewissermaßen einen Sicherheitspuffer, und auch für
den Fall einer steigenden Inflation versprechen sie Schutz.
Insbesondere aber gehören sie in jedes Portfolio, wenn die Konjunktur
in Schwung kommt und in der Folge die Firmengewinne steigen. Denn für
diesen Fall sind die meisten Aktienmärkte in Europa nach wie vor
nicht zu teuer bewertet und lassen Raum für Kursfantasie.

Das Problem ist, dass sich viele Investoren in Erwartung einer
wirtschaftlichen Belebung schon sehr frühzeitig an den Börsen
positioniert haben, als viel beachtete Frühindikatoren die Hoffnungen
untermauerten. Inzwischen hat sich das konjunkturelle Bild allerdings
eingetrübt: Mit einer schnellen Belebung rechnet nun eigentlich kaum
noch jemand. Der unerwartete Rückgang des Einkaufsmanagerindex für
die chinesische Industrie, der in der abgelaufenen Handelswoche zu
einem Kurseinbruch am heiß gelaufenen japanischen Aktienmarkt führte,
lieferte dafür einen weiteren Beleg. Im Ergebnis bleibt
festzustellen, dass für den Höhenflug der Aktienmärkte eindeutig die
fundamentale Basis fehlt.

In diesem Umfeld ruft es zumindest unterschwellig Verunsicherung
hervor, dass der oberste US-Währungshüter Bernanke eine Drosselung
der Anleihekäufe durch die Fed in Aussicht stellte. Er verknüpfte
eine entsprechende Aussage in der Fragerunde im Kongress zwar mit dem
Hinweis, dass dies die Entwicklung der Konjunktur zulassen müsse,
aber fortan werden es Investoren berücksichtigen müssen, dass die Fed
das Volumen der Anleihekäufe von aktuell 85 Mrd. Dollar pro Monat
schon bald herunterfahren könnte. Dieses Faktum dürfte dazu führen,
dass viele Anleger künftig zurückhaltender agieren werden. Die
Volatilität sollte deshalb steigen. Schließlich werden insbesondere
kurzfristig operierende Adressen daran interessiert sein, bereits bei
kleineren Rücksetzern die üppigen Buchgewinne zu kassieren.

Der übergeordnete Bullenmarkt sollte allerdings Bestand haben,
denn es fehlt schlicht und einfach an Alternativen. Der ursprünglich
für das zweite Halbjahr erhoffte deutliche Anstieg der Notierungen
sollte sich indes erst dann einstellen, sobald Stimmungsindikatoren
und Wirtschaftsdaten signalisieren, dass sich die konjunkturellen
Perspektiven tatsächlich verbessern. Das Risiko besteht darin, dass
die erhoffte Belebung trotz umfangreicher Maßnahmen der Notenbanken
ausbleibt. Für diesen Falls reicht eine Anpassung des Drehbuchs aber
nicht aus: Dann müsste ein ganz neues her.

(Börsen-Zeitung, 25.5.2013)

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