Kann ein Verfassungsgerichtsurteil ein gutes 
Urteil sein, wenn es von fast allen Seiten Beifall bekommt? Was 
bedeutet es, wenn sich Bundesregierung wie auch Kläger, wenn sich 
Parteien und Verbände, ja sogar voraussichtliche Zahler und 
Nutznießer des Euro-Rettungsschirms ESM sowie Investoren, Gläubiger 
und Schuldner zufrieden zeigen? Das lässt nur einen Schluss zu: Jeder
sucht sich aus dem Urteil jene Aspekte heraus, die ihm passen. Die 
Risiken und Nebenwirkungen werden ausgeblendet.
   Das beginnt damit, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 
in der Öffentlichkeit schon wie eine Entscheidung in der Hauptsache 
aufgefasst wird, obwohl es ein Eilverfahren zum Erlass einer 
einstweiligen Anordnung war. Damit wollten die Antragsteller die 
Ratifikation von ESM und Fiskalpakt verhindern. Zu dieser 
(Fehl-)Wahrnehmung hat das Gericht selbst beigetragen, indem es schon
für den Eilantrag eine summarische Prüfung der Rechtslage vorgenommen
hat, weil mit der Ratifikation der Verträge völkerrechtliche 
Bindungen eingegangen werden, die auch ein späteres Urteil der 
Verfassungsgerichts nicht mehr rückgängig machen könnte.
   Das setzt sich fort mit einer völlig überzogenen Erwartungshaltung
vieler Beobachter im Ausland, aber auch jener 37000 Mitkläger, die 
vom Gericht eine Grundsatzentscheidung über die Zulässigkeit der 
Euro-Rettungspolitik erhofften. Die jetzt noch irrigerweise annehmen,
das Gericht habe die Haftung Deutschlands in der Euro-Rettung auf 
jene 190 Mrd. Euro begrenzt, die sich aus dem deutschen Anteil am 
ESM-Kapital ableiten. Diese Haftungsbegrenzung gilt nur für den 
ESM-Vertrag in der vorliegenden Form.
   Dem Ausbau der Haftungsunion hat Karlsruhe dagegen keinen Riegel 
vorgeschoben. Denn erstens ist der unter Auflagen durchgewunkene ESM 
ja ein erster völkerrechtlicher Schritt in die Haftungsunion und 
zweitens ist es aus Sicht des Gerichts möglich, diesen Haftungsrahmen
zu erweitern, wenn die Regierungen mit entsprechender demokratischer 
Legitimierung das wollen. Und drittens ist es unabhängig davon 
möglich und wird praktiziert, über andere Vehikel bis hin zu den 
Anleihekäufen durch die Europäischen Zentralbank (EZB) die deutsche 
Haftung auszuweiten. Daran hat die Karlsruher Entscheidung nichts 
geändert. Inwieweit die Kaufprogramme der EZB die deutsche Zustimmung
zu den EU-Verträgen und das Demokratiegebot tangieren, wird das 
Verfassungsgericht erst im Frühjahr im Hauptsacheverfahren prüfen. 
Bis dahin haben die Target-2-Salden und absehbare Anleihekäufe der 
EZB weiter Fakten geschaffen, egal was Karlsruhe dann verkündet.
   Ein Urteil also für die Katz? Nicht ganz, zumindest eine 
Klarstellung ist für die laufende Euro-Rettungsdebatte hilfreich: 
Nach den gestrigen Ausführungen des Gerichts darf der ESM weder 
gehebelt noch mit einer Banklizenz ausgestattet werden.
   Aber was heißt das schon? Wird der ESM nicht bereits als 
Feigenblatt und Katalysator für die formal unlimitierten Anleihekäufe
der EZB missbraucht? Hier haben die Damen und Herren in den roten 
Roben leider darauf verzichtet, jetzt schon eine rote Linie zu 
ziehen. Zwar hat Präsident Andreas Voßkuhle daran erinnert, dass die 
Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert ist, in der die 
monetäre Haushaltsfinanzierung durch die EZB verboten ist. Solange 
aber die EZB für sich selbst reklamiert, innerhalb dieses 
Vertragsrahmens zu bleiben und darin sogar von der Bundesregierung 
bestärkt wird, werden die geldpolitischen Grenzüberschreitungen der 
EZB ohne Richter und ohne Folgen bleiben. Ja, das Verfassungsgericht 
selbst hat sogar den Hinweis gegeben, dass es demokratisch 
legitimierte Änderungen der erwähnten stabilitätspolitischen 
Grundsätze nicht zwangsläufig als verfassungswidrig ansähe.
   Erwartungsgemäß hat das Gericht den Ball der Euro-Rettung dorthin 
gespielt, wo er hingehört: ins Feld der Politik. Selbst wenn die 
Richter der Überzeugung wären, dass die Verträge zur Euro-Rettung für
Deutschland schädlich seien, dürften sie sie nicht blockieren, wenn 
ihr Zustandekommen verfassungsgemäß erfolgte. Den gewählten 
Politikern hat das Gericht einen weiten Ermessensspielraum 
hinsichtlich der vertretbaren Belastungen und der Einschränkung der 
Haushaltsautonomie des Bundestages zur Verwirklichung der 
Währungsunion eingeräumt. Dabei darf der Gesetzgeber ausdrücklich 
auch die Folgen alternativer Handlungsoptionen berücksichtigen, also 
die schwerwiegenden, aber kaum abschätzbaren Folgen für Deutschland 
im Falle des Scheiterns der Währungsunion. Damit ist klar: Um die 
Weiterentwicklung Eurolands müssen die Politiker ringen und bei ihren
Wählern werben. Wem die Fahrt in die europäische Haftungsunion nicht 
passt, kann auch künftig nicht darauf hoffen, das Verfassungsgericht 
zum Bremsklotz zu instrumentalisieren. Das ist gut so. Denn so wenig 
die Zukunft Eurolands und die damit verbundenen finanziellen Lasten 
der Bürger in Brüsseler Hinterzimmern ausgekungelt werden dürfen, so 
wenig darf man sie Karlsruher Richtern überlassen. Zum Handeln sind 
diejenigen berufen, die das Volk gewählt hat, stellte das Gericht die
eigene Rolle klar. Daran sollte sich die andere von der Politik 
unabhängige und nicht durch demokratische Wahl legitimierte 
Instition, die EZB, ein Vorbild nehmen. Den Politikern sei Voßkuhles 
Mahnung zum Auswendiglernen empfohlen: „Nur als demokratisch 
legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft.“
(Börsen-Zeitung, 13.9.2012)
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