Börsen-Zeitung: Geduldsprobe in Berlin, Leitartikel von Angela Wefers

Nur wenig ist am Tag zwei nach der
Bundestagswahl gewiss: Angela Merkel (CDU) wird nach dem überraschend
großen Wahlerfolg auch die neue Bundeskanzlerin sein, und die
Koalitionsverhandlungen werden sich hinziehen. Schnell darf
Deutschland nicht auf eine neue politische Führung hoffen. Für die
versprochene stabile Regierung braucht Merkel trotz knapp verfehlter
absoluter Mehrheit einen Koalitionspartner. Die beiden möglichen
Kandidaten – SPD und Grüne – demonstrieren Zurückhaltung: Sie hängen
so die Latte für Verhandlungen mit der Union hoch.

Bei den Grünen kommt erschwerend hinzu, dass die Führungsriege
nach der Wahlniederlage geschlossen ihren Rücktritt angeboten hat.
Können gelähmte grüne Spitzenpolitiker mit der Union verhandeln?
Alles steuert auf eine große Koalition zu. In den betroffenen
Parteien erscheint dies vielen als am ehesten vorstellbar. Ein
schwarz-grünes Projekt, das fast schneller gekommen wäre, als selbst
die Beteiligten es vorhergesehen hätten, muss wohl noch warten.

Programmatische Schnittmengen zwischen CDU, CSU und SPD sind
vorhanden, aber auch große Unterschiede. Alle Parteien stehen hinter
der Integration Europas, eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten
Legislaturperiode. Für mehr Investitionen in Infrastruktur, Bildung
und mehr Wettbewerbsfähigkeit hierzulande setzen sich ebenfalls alle
ein. Bei der öffentlichen Finanzierung wird es schon schwieriger.
Einigkeit herrscht darüber, dass der Weg aus dem Schuldenstaat
vorgezeichnet ist. Die SPD will indessen dafür die Steuern erhöhen,
CDU/CSU laut Wahlprogramm keinesfalls.

An diesem Punkt könnte die Union bald wackeln. Zwar dürfte die SPD
etwa ihre Vermögensteuerpläne aufgeben, schon weil sich die
versprochene Verschonung der Unternehmenssubstanz von anderen
Vermögen steuersystematisch kaum isolieren lässt, doch gibt es dies
nicht gratis. Ein Alarmzeichen ist, dass der Unions-Wirtschaftsflügel
bereits die Öffentlichkeit gegen Steuererhöhungen einschwört. Die
Erfahrung aus dem Jahr 2005 lehrt, dass es zu Überraschungen kommen
kann: Bei der Mehrwertsteuer führte die Formel zwei (SPD) plus null
(Union) zu drei Prozentpunkten mehr. Finanzrisiken aus der
angespannten Lage Europas sind dabei als Begründung vorgezeichnet.

In der Finanzmarktregulierung sind es vor allem europapolitische
Positionen, die Union und SPD trennen. Die Sozialdemokraten dringen
auf einen europäischen Bankenfonds und eine strikte Trennung der
Bankenaufsicht von der Europäischen Zentralbank in einer eigenen
Behörde. Auch der europäische Schuldentilgungsfonds, den die SPD
fordert, steht den Vorstellungen der Union entgegen. Hier wird es
klare Vereinbarungen geben müssen, wie auch über die Art der
Begrenzung von Managergehältern, welche die SPD kurz vor Toresschluss
im Bundesrat noch scheitern ließ. Nationale Dissonanzen, wie die über
das Trennbankengesetz, dürften dagegen erst einmal verstummt sein.
Die SPD hatte das Gesetz mitgetragen, auch wenn ihr die Trennung der
Bankaktivitäten nicht weit genug ging.

Bei anderen politischen Differenzen, wie sie sich bei der
Mütterrente, dem Betreuungsgeld, dem Mindestlohn oder einer Pkw-Maut
für Ausländer abzeichnen, sind die Partner gut beraten, ihre
Kompromisse minutiös im Koalitionsvertrag auszuformulieren. Dies
hatte Schwarz-Gelb versäumt und es im Lauf der Legislaturperiode
teuer bezahlt. Anders war es bei der großen Koalition 2005 und bei
der ersten rot-grünen Regierung 1998. Dort zeichneten klare
Vereinbarungen den Weg für eine stabile Regierung durch die
Legislaturperiode vor.

Stabile politische Verhältnisse in Deutschland sind es auch, die
Europa von der Bundestagswahl erhofft hat. Wer indessen in den
Programmländern auf eine Lockerung des Kurses von Strukturreformen
und Konsolidierung der Staatsfinanzen gehofft hat, muss enttäuscht
sein. Merkel hält daran fest. Jedes Land muss seine Hausaufgaben
selbst machen. Drängende Forderungen der SPD nach mehr Solidarität in
Europa dürften aus der Regierung heraus leiser werden, als sie es aus
der Opposition waren. Das gute Abschneiden des politischen Start-up
„Alternative für Deutschland“ (AfD) hat jedoch ein eklatantes Defizit
aufgedeckt: Bei den Spitzen der Parteien, allen voran Merkel, mangelt
es an klaren Positionen zur künftigen institutionellen Aufstellung
Europas. Zumindest fehlt es an deren öffentlicher Vermittlung.
Besetzen die etablierten Parteien dieses Thema mit einer ehrlichen
Debatte, bleibt wenig Platz für eine allein auf die Eurokritik
fokussierte AfD.

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